II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 279

alles Durchschauens von Zusammenhängen letztes Ende
or es scheint, mag ihnen der
sein mag, dies: es könnte wol so sein, muß aber nicht.
teste könen. Eine geniale Frau
Die Kausalität in diesem Drama hat eine Art dubiosen
„Der Tod ist das einzige
Schillerns, die Tatsachen irisiren in allen Farben der
en es sich verlohnt, auf die
Unwahrscheinlichkeit, Voraussetzungen und Konklusionen
tragen den Schnörkelschmuck vieler Fragezeichen.
r letzte Dinge dünkt mich des
Es mag, für den zweiten Akt, gelten,
ber sehr fein und virtuos die
daß die Fülle und Raschheit der Aktion, die jähen Er¬
elieftechnik, in der hier Tod
scheinungen und pointierten Tode, besonders aber die
setzt sind. Und wenn auch
geringen Aufenthalte, die Gefühl und Intellekt der
den Problemen gesagt, wird,
handelnden Personen bei all' den tragischen Plötzlichkeiten
enzen
lagern, so schwebt ei
nehmen, der Komödie manches von der Eckigkeit eines
wie dichterische Ahnung des
Puppenspiels verleihen. Aber dieses stretta=Tempo, diese
der an jenen Grenzen sein
Wiedergabe eines großen Tatsachenkomplexes in verkleinertem
treibt; wie unartikulierte
Maßstab, hat auch ihren Reiz. Der Eindruck weiter Distanz
einer höheren, nicht erkenn¬
wird vermittelt. Lebenslinien schließen sich zur Schicksals¬
Pelt=Ordnung reden.
figur zusammen. Mit einem Blick sind Anfang und
ßartig = tückischen
Mechanik,
Ende zu umfassen. Zeffall enthüllt sich als Notwendigkeit,
chicksal nennen, wird ein
und göttliche Gerechtigkeiten als Produkte einer unbegreif¬
Zusammenhänge demon¬
lichen, kalten, spielerischen Laune.
Es ist naturgemäß, daß die
Schwer, gewaltsam, massig sind die Schicksale,
h ausfallen mußie. Wunderliche
die „der Ruf des Lebens“ aufrollt; aber sie scheinen leicht
Ebenmäßigkeiten stören. (Man
und federnd durch das elastische Netz von Zusammen¬
etwa beim ersten Anblick von
hängen, das sie trägt. Die Ereignisse des Dramas stehen
I und Aktschluß II zum Bei¬
zu einander in mannigfach proportionierten Verhält¬
hm identisch. Bei beiden wird
nissen, in Beziehungen, wie sie etwa zwischen Schall und
ten Menschen hinweg durch
Echo, Spiel und Gegenspiel, rechts und links herrschen
stuf des Lebens“ gefolgt). Aber
(Beziehungen, die, ich erwähnte es schon, manchmal bis zur
rte Absicht, zu zeigen, daß der
esteifen Symmetrie stilisiert erscheinen). Da ist die Tochter
über Leichen geht.
des bösen, alten Mannes, die durch den Zwang, der
ist so: Modell. Ein dramatischer
über ihrem Leben lastet, zur tragischen Figur
ter Kursus durch die Nachtseiten
wird; da ist
die Tochter der guten, alten
Liebe, Ehre, Mut, Freundschaft.
Frau, die an der Freiheit zugrunde geht. Da ist
pektrum leidenschaftlichen Lebens.
ein Mann, der einst, als Soldat auf verlorenem Posten,
Frauen betrügen, locken, lügen,
die Stimme der Pflicht nicht hörte, weil sie vom Ruf
habe gesehen, wie Männer
des Lebens ##terschrien wurde. „In diesem Augenblick
d töten,“ sagt Marie von dieser
wußt' ich mitnem Mal, daß sie uns all das, was uns
auf den Fleck gebannt hielt hundert Ewigkeiten lang, nur
Verwischtheit an der Komödie
vorlügen
Ehre und Vaterland nur vorlügen, um
ist ehrlich. Es bekennt, was uns sicher zu haben! ... Wer lohnt mir's? Wer dankt
S
mir's?“ Dreißig Jahre später handelt die Tochter ganz
konform dem väterlichen Beispiel, läßt den ver¬
zweifelten Posten, flieht ins Leben, schüttelt die
Hypnose von Kindespflicht und =Liebe ab, die sie auf
dem Fleck gebannt hielt hundert Ewigkeiten lang.
Da ist der Oberst, der sein Regiment dem Tode weiht. Ein
heldisches, Ehrfurcht und demütige Bewunderung abzwingen¬
des Tun, wie es scheint. Aber halb und halb schimmert's
durch, daß der große Entschluß aus mystisch=trüben
Zufallsmotiven erwuchs.
Ganz ähnlich, wie der
Oberst seinem Regiment, benimmt sich das Schicksal den
Töchtern der Frau Toni Richter gegenüber. Sie alle, die
drei blühenden Mädchen, opfert es der Schwindsucht, dem
Tod. Warum? Welche Weisheit oder welcher Unsinn
steckt dahinter? Welche abgrundtiefe Logik oder welcher
wütende Zufall? Die Menschen fragen nicht, beugen
ihr Haupt dem Geheiß von oben, weinen, lobpreisen
den ewigen Namen. Dieser Oberst ist wie der liebe Gott.
„Unerforschlicher Ratschlüsse“ voll, die Leute heimschickend
„mit sublimen Worten“, alles wissend, Schuldige mit
dem Blitz der Rache treffend, Unschuldige mit dem
Blitz grausam=erhabener Entschließungen; und seine
Anbeter sprechen zu den Zweiflern: „Ihr versteht ihn alle
nicht.“
„Man muß die Zusammenhänge begreifen!“ meint
Leutnant Max.
Arthur Schnitzler liebt das Spiel mit dem Tod,
um den Tod herum. Auf dunkelsten Hintergrund
malt er mit Vorliebe seine zierlichen Gefühls=Arabesken,
die witzig=wehmütigen Ornamente seiner feinen, delikaten
Geistigkeit. Es ist manchmal billig. In Todes
Nähe werfen auch kleine Dinge, dürftige Menschen,
schmächtige Gedanken imponirend breite Schatten. Man
könnte, wollte man nach diesen schätzen, über die
Tiefen=Dimensionen der aufgezeigten Gefühls= und
Ideenwelten in optimistische Irrtümer sich verrennen.
Auch hier, im „Ruf des Lebens“. Aber dieses Schau¬
spiel, mitsamt seinem liquidierenden, epilogischen dritten
Akt, seiner blumigen Schwermut und der Hyperämie
seiner Tatsachen, birgt dichterische Schönheiten und
starke Stimmungen, die unvergeßlich bleiben.
Welch lieblich aparte Figur, diese feine, kranke
Katharina, im Zwielicht von Todesmelancholie und
Lebenslust flimmernd. Wie rührend ihre kindisch weise
Grausamkeit in dem kleinen Hymnus aufs Abschied¬
nehmen. „Abschiednehmen ist süß“ sagt sie. „Wenn man
erst weiß, wie kurz das Leben ist, duftet jeder Abschied
von einem neuen Morgen.“ Ein gefräßiger kleiner
Raubvogel, und selbst schon sicherer Fraß eines anderen,
der lautlos, gierig über ihm kreist. Wie eindrucksvoll die
Stimmung zu Beginn des zweiten Aktes, dieser nächtig=stille
Kasernhofmit den spärlichen Zeichen von Wachsamkeit; im
Gespräch zwischen den Menschen des todgeweihten Re¬
giments, zwischen Oberst und Leutnant, Leutnant und
Unteroffizier, ein eigentümlicher Unterton von Weichheit
bei allem Ehrfurchts=Zeremoniell; ein süßer Tropfen
Menschlichkeit rinnt durch die soldatisch kurze und strenge
Rede; von der Sterbens=Gewißheit sind die Seelen schon
wie gelockert in ihrem Gehäuse; klingen fast.
Eigenartig ist die Sprache des neuen Schnitzler¬
Dramas. Die richtige schwungvolle, schön flammende
Diktion des bürgerlichen Trauerspiels. Eine in Poesie
gebeizte, gesteifte Prosa. Seltsam, wenn ein Leutnant in
kameradschaftlicher Unterredung, aus dem Stegreif, aus¬
ruft: „Ach, nie mehr an blühenden Lippen hängen, vom
Duft zitternder Brüste umweht!“ Manchmal streckt sich
der Dialog, bis er fast als Vers erscheint, so strammrhythmisch
„Wie
geplättet: „Nun bin ich aber da.“
wagtest du dich fort?“
„Er ist noch nicht daheim!“
Man mag in das Schnitzler=Drama Manches
hineindeuten oder Manches aus ihm herauslesen, was nicht
darin steht. Immerhin. Ob gutes Können des Schriftstellers
oder guter Wille des Lesers: es spricht schon für die
hohe Qualität einer Dichtung, wenn sie so sehr wie
dieser „Ruf des Lebens“ zum Deuten, Mit=Fühlen und.
Mit=Dichten lockt.
Alfred Polgar.