II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 291

in die Nacht hinaus, die Tür hinter sich versperrend. „Die
ist, sondern in zwei fast völlig poneinander unabhängige
Einakter und einen angehängten Epilog zerfällt. Der erste
Szene ist nun leer; nur die tote Irene liegt auf dem Fu߬
Einakter, etwa „Der Ruf des Lebens“ zu betiteln, ist die
boden ... Draußen Ruf einer Patrouille ... Ferne Trom¬
Geschichte des jungen Mädchens, das sich von dem kranken
petenstöße. Vorhang.“
alten Vater peinigen läßt, bis es seine ungestümen Wünsche
Hat Marie in dieser Nacht das Leben gefunden, dessen
dazu treiben, den Vater durch Gift zu töten und hinaus in
Ruf sie gefolgt ist? Sie weiß es wenige Wochen später nicht
die Nacht zu stürmen. Niemand empfände einen Mangel,
mehr. „Doch hab' ich in dieser einen Nacht erfahren, was
wenn der Vorhang nach diesem Einakterakt endgültig fiele.
andere Frauen nicht in tausend Tagen und Nächten ge¬
Streicht man in zweiten Akt die vierte Szene, in der
schenkt ward ... Ich habe gesehen, wie Frauen betrügen,
Marie ins Leutnantzimmer stürmt, und die zehnte, in der
locken, lügen, ehrlich sind und sterben, habe gesehen, wie
sich Marie und Max verbinden, so ist ein neuer, ganz abge¬
Männer zittern, spielen, höhnen und töten. Und was ic
schlossener Einatter da, der etwa „Vorabend“ heißen
sah, war nur ein Vorspiel zu meinem eigenen Schicksal ..
könnte. Lauter neue Menschen treten auf, eine ganz andere
Dann erst lebte ich meine eigene Seligkeit und meine eigene
Welt öffnet sich. In der Kaserne, am Abend vor dem
Verzweiflung ... Ob ich das Leben fand? .... Es muß
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Auszug in den Krieg. Der Leutnant wird mit seinem
wohl so sein... Glücklich bin ich gewesen, wie kein mensch¬
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Unteroffizier vertraulicher als sonst, er erörtert mit einem
liches Wesen jemals war, und elend wie keines, — bin
Kameraden die naheliegenden Probleme von Tod und s2
geliebt worden, wie eine, die man mit Schmerzen ersehnt,—
Leben, Bedeutung des Vaterlandsbegriffes, von Zweck oder
bin verlassen worden, wie eine Dirne, die man sich genom¬
Sinnlosigkeit des Krieges und dergleichen meh# Dann
men hat für eine Nacht ... Ja, ich habe das Leben ge¬
kommt des Obersten Frau, zuletzt der Oberst und mit ihm
funden — das mich rief ... aber in seiner Seligkeit, in
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die Abrechnung. Mit Maxens Selbsimord, während sein
seinen Leiden, hauchte es mir Tod entgegen.“ So spricht
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Regiment mit fliegenden Fahnen und unter klingendem
Marie vier Wochen nach der verhängnisvollen Abenteuer¬
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Spiel ins Feld zieht, könnté dieser zweite Einakter
nacht zum Doktor, der sie, des Vaters natürlichen Tod
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schließen, wie Hartlebens „Rosenmontag". Wieder würde
bezeugend, vor den Folgen ihrer Mordtat gerettet hat.
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niemand irgendein Defizit sühlen. Durch Mariens Ge¬
Und aus ihren Worten erfahren wir auch die schrecklich
stalt werden die zwei Einakter lose verknüpft. Und weil g
Enttäuschung, die jener Nacht folgte: „Gemordet hatt' ich
damit weder der Theaterabend, noch das übliche dreiaktige
für einen — und er wollte nicht mit mir leben — nicht
Schema erfüllt wäre, folgt ein dritter Akt, der nur ein |9
einmal sierben mit mir! Denn darum fleht' ich ihn an. —
dialogischer Epilog in lyrisch gehobener Rede ist, aber weder
Aus meinen Armen ist er fort — nicht ins Dasein hinaus
frühere Fäden weiterspinnt, noch neue knüpft. Instinktiv
nicht in einen edeln Tod — nein, er ist gegangen, sich
merken das manche Zuschauer und werden widerhaarig.
umbringen, kläglich, für eine andere die ihm so wenig be¬
Aber dieser unbehebbare Baufehler des Dramas — es 2
deutet hat, als ich.“ Marie hat nicht die Kraft gehabt, sich zu
war viel davon die Rede, daß Schnitzler für die Wieners#
töten; Max aber ist in sein Zimmer heimgekehrt und hat !
und die ihr vorangehende Prager Versuchsaufführung das
sich dort erschossen, damit die Welt an einen Doppelselbst¬
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Stück ganz umgearbeitet habe; die Aufführung zeigte,
mord mit Irene glaube. Auch von den blauen Kürassieren
daß das Schauspiel im wesentlichen unverändert geblie¬
lebt keiner mehr; sie sind in einer Schlacht gefallen, die
den ist, aber durch Kürzungen bühnenwirksamer und nur
trotz ihres Heldenmutes verloren ging. Und schon raunt
im dritten Akt (erst bei den Wiener Proben) in einigen
das Gerücht, der Oberst habe diesen Rütlischwur nur an¬
Punkten geändert wurde — tritt gegen seine üppig=blü¬
geregt, um zugleich mit dem Liebhaber seiner Frau, den er
henden Schönheiten weit zurück. Der geheimnisvolle Zau¬
unter den Offizieren ahnte, aber nicht kannte, zu sterben...
ber des Dreigestirns Tod — Leben — Liebe leuchtet in
Marie jedoch ist aus ihrem seltsamen Schicksal empor¬
diesem Werke besonders hell und beseligend, jenes Geheim¬
getaucht wie aus einem wilden Traum, sie lebt, sie sehnt
nis, das Horaz in die zwei dicta: „Carpe diem“ in den
sich, zu leben. Ihre schwindsüchtige Cousine Katharina,
Oden und „Mors ultima linea rerum est“ in den Episteln
Mariens leichtblütiges Gegenbild, stirbt, nachdem sie ihr
gefaßt hat und das in anderem Latein von dem Satze
Dasein eine kurze Spanie Zeit in vollen Zügen genossen
„Media in vita in morte sumus“ beschlossen ist. Alle
hat. Marie lebt. Der Adjunkt nimmt Abschied von ihr; doch
man fühlt, die Stunde wird kommen, wo er und Marie] Wunder der Stimmung entfalten ihren berückenden Reiz,
einander wieder begegnen werden, sich für immer zu ver- die Menschen, die auftreten, sind zum Greifen lebensvoll,
einen. Der Doktor, ein wenig Raisonneur, wie der alte und mit ihnen — das Drama spielt etwa in der Mitte!
Weiring in der „Liebelei“, spricht den Text zu dieser hoff= des vorigen Jahrhunderts in Österreich — wird ein Stück

älteren Österreichs lebendig. Dabei ist doch Ort und Hand¬
nungsfrohen Melodie: „Sie leben, Marie ... und es
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lung in einem gewissen schwebenden Dämmer gehalten: der
war... Auch seit jener Nacht und seit jenem Morgen
erste und der zweite Akt spielen wohl in Wien, der dritte
fließen die Tage und Nächte weiter für Sie hin. Auch daß
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Sie über Feld und Wiesen spazieren gehn, daß Sie Blumen aber in einem fingierten Dorf Grünau in Niederösterreich.
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Fflücken, daß einer versöhnt von Ihnen Abschied nahm, daß Wegen der Truppenaufmärsche kann der Adjunkt im ersten
hinter diesem Fenster eine Freundin Ihnen für ewig ent= Akt nur auf einem Umweg — Freyung, Hof, Tiefer Gra¬
ben sind voll von Menschen — zu Mosers kommen, aber
schwindet, daß Sie hier mit mir reden unter dem leuchten¬
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die vor dreißig Jahren verlorene Schlacht der (unwirk¬
den Mittagshimmel, ist Leben. Nicht minder, als es jene
lichen) „blauen Kurassiere“ fand bei „Lindach“ statt. Nicht
Nacht gewesen ist, da es Sie aus verstörter Jugend nach
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nur im Schauplatz, sondern auch im gehobenen Ton der
dunkeln Abenteuern lockte, die Ihnen heute noch als Ihres
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Rede und in ganzen Episoden steigert sich das Drama in
Daseins letzter Sinn erscheinen .... Und wer weiß, ob
eine märchenhaft=transzendentale Ibsensche Welt, so ins=tin
Ihnen nicht später — viel später einmal aus einem Tag
besondere in der Gestalt von Cousine Katharina, die im in
wie der heutige der Ruf des Lebens viel reiner und tiefer
st
ersten Akt auftritt, von einem totgeweihten blauen Kürassier
in die Seele klingen wird als aus jenem anderen, an dem
kommend, Blumen (nicht Weinlaub) im Haar, und die im
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Sie Dinge erlebt haben, die so furchtbare und glühende
er¬
letzten Akt nach wochenlangem Herumzigennern sterbend zur
Namen tragen wie Mord und Liebe.“
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Mutter heimkehrt, über die Wiesen her, im lichten Kleide,
Dieses (dem Freunde Hermann Bahr gewidmete)
ohne Hut, mit aufgelösten Haaren, am Zann lächelnd ...
Schauspiel ist 1906 bei seiner Uraufführung im Deutschen
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Das Volkstheater hat den Dichter aufs beste unter¬
Theater in Berlin abgelehnt worden. Artur Schnitzler ist
an
stützt, zum größten Teil mit Künstlern, die erst in jüngster
ein Wiener Dichter, ja noch mehr: der beliebieste Wiener
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Zeit auch in Brünn ihr reifes Können erfolgreich erprobt
Dichter von heute. Daß eines seiner Dramen in Wien
haben. Der Marie lieh Fräulein Hannemann ihre
durchfiele, ist seit Jahren nicht mehr vorgekommen. Im
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herbe Innigkeit, die schwindsüchtige Katharina gewann bei
Burgtheater haben „Liebelei", „Das Vermächtnis“ „Der
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der Verkörperung durch Paula Müllers zarte und
grüne Kakadu — Paracelsus —. Die Gefährtin“ und
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gleichwohl entschiedene Zeichnung einen tragischen Glanz,
„Zwischenspiel", im Deutschen Volkstheater die zweite Be¬

den der Leser des Schauspiels nicht geahnt hatte, die
arbeitung von „Freiwild“, der „Kakadu“ die „Lebendigen
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Oberstin Irene wurde von Lili Marberg mit vorneh¬
Stunden", „Liebelei“ und die „Komtesse Mizzi“, im Josef¬
mer Leidenschaft verkörpert. Kramer als Leutnant Max
städter Theater „Die Marionetten" und „Anatol“, im
Theater an der Wien hat, dargestellt vom Ensemble und Klitsch als sein Kamerad Albrecht waren frisch und ju¬
Brahms „Der einsame Weg“ unbestrittenen Erfolg gehabt. brausend, wie immer, Kutschera gab dem Doktor eine ge¬