II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 297

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19. Der Ruf des Lebens
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hingeträumt, nur gewartet. Sie war verlobt — mit einem Forst¬
adjunkten, einem braven, netten, jungen Philister. Und glaubte, ihn
sogar zu lieben. Sie glaubte aber nur; ihre wirkliche Liebe schlummerte
noch. Ein Funke genügte, um ihre ganze Sehnsucht aufzustacheln.
Und dieser Funke war ein Leutnant, ein „blauer Kürassier“ mit
dem sie ein einziges Mal getanzt hat. Nach ihm geht ihr Ver¬
langen, zu ihm ruft ihr Leben. Aber sie kann nicht. Die Pflicht
hält sie am Krankenbett des alten, schrecklichen Vaters. Vielleicht
wäre sie weiter ihrer Pflicht treu geblieben. Vielleicht hätte die
Macht der Begriffe über die Gewalt der Leidenschaft gesiegt. Aber
da kommt der entscheidende Augenblick. Die blauen Kürassiere
rücken in die Schlacht, reiten zum Todeskampf hinaus, zum sicheren
Tod. Denn sie haben es geschworen, die Ehre ihres Regiments,
das vor dreißig Jahren sich mit Schmach bedeckte, durch seine
Flucht die Niederlage der Armee entschied, durch den Heldentod
reinzuwaschen. Blühende, junge Menschenkinder gehen freiwillig in
den Tod, um die Schuld von Menschen, die schon längst gestorben
sind, zu sühnen, um eines Phantoms wegen. Und worin bestand
diese Schuld? Daß jene Menschen leben wollten, vor dem Tode
Angst hatten, sich für den Staat, für die Allgemeinheit nicht hin¬
schlachten lassen wollten! Der Rittmeister Moser war es, auf
dem diese Schuld lastete. Denn er war der erste, der die Flucht
ergriff. Kein Mensch hat es erfahren. Nur seine Tochter weiß
es. Ihr hat er es gesagt, als er vom Todesritte der blauen
Kürassiere hörte. Mit dämonischer Schadenfreude. Der alte, böse
Mann lebt, und der junge, so unendlich geliebte Max, der Kürassier¬
leutnant, muß in den Tod ziehen! Die dumpfe Resignation Maries
wird zur Empörung. Sie will nicht mehr dulden, warten. Vielleicht
wird es zu spät werden. Zu spät. Das ist die größte Tragik
des Lebens. Ein unbesönnenes Wort des Arztes — und die Em¬
pörung wird zum Verbrechen: die Tochter ermordet ihren Vater.
Flieht, ohne den röchelnden Greis nur anzusehen, zu ihm, der ihre
Sehnsucht, der Rufer ihrer Seele ist. Und dann? Es ist doch zu
spät. Das Glück ist vorbei. Max geht in den Tod. Er hatte sich
in tolle Abenteuer geworfen, um die Glut des Blutes zu stillen,
hat die Frau seines Obersten verführt. Der Oberst rächt sich. In
der Nacht vor dem Auszuge der Kürassiere trifft der Oberst seine
Frau im Zimmer des Leutnants, tötet sie und zwingt Max, die
Schuld auf sich zu nehmen, das heißt, sich selbst zu töten. In dieser
Nacht aber schenkt dem Todgeweihten auch Marie ihre heiße Liebe.
Neben Marie ihre
Genießen und sterben, Wonne und Tod.
Base Katharina, gleichfalls dem Tode geweiht, und sich in Liebe
und Genuß verzehrend. Und dann klingt alles in Töne tiefsten
Leides, unstillbaren Schmerzes aus. Blühender Sommer, lockender
Himmel, aber in Weh vergehende Menschen. Was bleibt übrig?
Resignation? Oder etwa die mystischen „Zusammenhänge“? Was
ist unser Weh, was ist unsere Freude? Nichts als ein Gleichnis.
Nur das Leben blüht, schreitet lächelnden Antlitzes über Leichen
hinweg. Und das ist die Weisheit, die Schnitzler durch den Doktor
Schindler im Stücke verkünden läßt. Traurige Weisheit? Oder
vielleicht eben deshalb hoffnungsvoll? Kein Sinn, kein Zweck,