II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 312

19. Der Rufdes- Lebens
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gebenheiten des Schauspiels vermochte der Dichter
selbst mit seiner meisterhaften Technik nicht zu über¬
brücken. Die einzige Lösung wäre, wie ein geschätzter
Kollege treffend ausführte, das Märchen, das
Puppenspiel gewesen. Aber der Dichter wählte die
entgegengesetzte Methode, er arbeitete kunstreich an
den Fügungen, an der Struktur und Textur des
Werkes, legte Stützbänder und Zugbänder der Logik
an, verzweigte und verschränkte die psychologischen
Elemente, schob Gründe ein und setzte ohne Unterlaß
Motive unter, klammerte die Dinge und Gestalten
aneinander, daß keine Lücke blieb, kein lockeres, leeres
Wort. Und doch wurde es nur ein schwankes Not¬
gerüst, auf dem sich die ausgezeichneten Darsteller
des Deutschen Volkstheaters mit äußerster Vorsicht
bewegen mußten. Fräulein Hannemann wird von
ihren gesunden künstlerischen Instinkten sicher einmal
zu den höchsten dramtatischen Aufgaben hingeleitet
werden. Diesmal war sie nicht so frei wie sonst und
schwankte — durch Schuld der Dichtung — zwischen
der Rührung des bürgerlichen Dramas und der
großen Verantwortung, welche die epischen Motive
auf die Bühne zu wälzen schienen. Fräulein Müller
als liebeseliges Katharinchen schmiegte sich in dem
Dialog mit Marie in herber, reizend müder Grazie
an die Reste eines jungen Lebens, und in der Todes¬
szeue ging sie mit blitzendem Kunstverstand auf die
schwierigste Lösung der Frage los, ob das Dirulein an
Shakespearescher Opheliasis oder an der gewöhnlichen
Schwindsucht stirbt. Das Schauspiel selbst aber hält
das Rätsel offen. Auch Herr Kramer schien die be¬
rechtigten Zweifel zu hegen, ob er diese abenteuerreiche
letzte Nacht in der mondhellen Liebenswürdigkeit des
Leutnants verbringen dürfe oder von den Schatten
des großen Todes umdüstert werden mußte. Jeden¬
falls wurde es allen klar, daß die gewohnten Agenden
eines Leutnants der Kavallerie sich noch vor dem
letzten Lebenshauche bedenklich häufen.
Dr. Robert Hirschfeld.
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(Quellenangabe ehne Gewähr).

Tagblatt
Ausschnitt aus:
IENEPR
22. Sermsenses
vom:
Im Deutschen Vollstheater daben zwei Stücke völlig änders ge
wirkt, als man nach dem Berliner Urteil erwarten dürfte. Das eine ist
Bernard Shaws fünfaktige Komödie „Der Arzt am Scheidewege“, die
bekanntlich in den Reinhardtschen Kammerspielen 150- bis 200mal ge¬
geben worden ist. Seine halb grotesken, halb ernsthaften Attacken wider
die berühmten Aerzte haben auch hier wie überall interessiert. Die be¬
ruchtigte grausig=komische Sterbeszene wirkte abstoßend, aber sie wirkte.
Das zum Teil sehr verständnisvoll gesvielte Stück erregte Verblüffung,
Gelächter, Entsetzen und Aerger — eine richtige Shaw-Wirkung, die
aber nicht lange anhielt.
Ganz anders verhält es sich mit Artbur Schnitzlers Schauspiel
„Der Ruf des Lebens“. Vor drei Jahren ##abgelehnt,
hauptsächlich wegen einiger krasser Unwahrscheinlichkeiten. Da ist ein
Mädchen, das den alten, kranken Vater umbringt, um in die Arme des
Geliebten zu eilen; da ist ein Regiment, das vom eigenen Oberst zur
Sühne dem sicheren Tode geweiht wird, und ähnliches mehr, was dem
Berliner Geschmack nicht zusagen konnte. Nun hat der Dichter sein
Stück einer Umarbeitung unterzogen. Manches wurde geändert, ge¬
g#urzt und gemildert. Die Vorgänge bleiben noch immer stark genug,
und ganz gewiß ist dieses Schauspiel das theatralischste, was der sonst
so zarte und behutsame Schnitzler geschrieben hat. Namentlich der
Schluß des ersten Aktes, die Ermordung des Vaters ist von einer hef¬
#tigen Wirksamkeit, die schon ans Brutale streift. Der zweite Akt be¬
steht aus lauter solchen heftigen, stürmischen Szenen, und manche von
den aufgewendeten Effekten und Mitteln würden in einem modernen
Milien kraß und unangenehm wirken. In der überhitzten und dabei un¬
bestimmten Sphäre dieses romantischen Dramas erscheint alle Kra߬
heit plausibel. Uebrigens ist heutzutage theatralisch gewiß kein Fehler,
um so mehr, als es hier auch an rein dichterischen Wirkungen, an nach¬
denklichen Schönheiten und reizvoller Phantastik nicht fehlt. Der ganze
Arthur Schnitzler mit seinen starken und schmachen Seiten ist in diesem
Schausviel enthalten, und schon deshalb ist es uns lieb und wert. Es
wird im Deutschen Volkstheater künstlerisch nobel und tüchtig dargestellt.
De sind vor allem Fräulein Hannemann und Fräulein Paula Müller
zu nennen und Direktor Weiße. Die übrigen trafen den großen Stil,
den die Dichtung verlangt, nicht völlig: aber im ganzen war es eine
sehr schöne und bemerkenswerte Aufführung. Auch bemerkenswert
wegen der starken und tiefen Wirkung und des großen äußeren Erfolges,
den man an literarischen Theaterabenden hier gar nicht mehr gewöhnt.
Schließlich haben nicht bloß Operettenlibrettisten, sondern auch —
Dichter-menig Anfpruch auf Jubel und Megeister##