19. DerRuf des Lebens box 24/3
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AUIitOe
Der Ruf des Lebens von Alfred Polgar
ine schöne, wunderlichs Komödie, eilig zwischen Tod und Leben hin
4 und wider wandelnd, brutal und zart, tieftraurig=resigniert und doch
sanft schimmernd von mancherlei milden Zuversicht, voll Blut und
Leidenschaft und Schwermut und lyrischer Verschnörkelung, voll großer
Fragen und bescheidener Antworten, zweifelnd, anklagend, entschuldigend,
unempfindlich und empfindsam, überlegen bis zur Demnt (als der Ueber¬
legenheit letzte Konsequenz) und pathetisch bis zur Einfachheit (als des
Pathos sublimster Spitze).
Der Begriff: Leben erscheint in diesem Drama vielfältig dialektisch
gespalten. Der kluge Arzt und der skeptische Offizier verstehen unter
Leben schlechtweg: esse; das Vorhandensein allgemeinster physiologischer
Voraussetzungen. Die Jugend im Stück versteht unter Leben: Erleben;
intensive Stunden, große Inhalte, Höchst=Spannungen des Organismus,
Abenteuer und Außerordentliches, Räusche und Ekstasen. Der Ruf des
Lebens ist für die einen: ein ruhiger, über allen Dingen schwebender, ewiger
Ton; für die andern eine hinreißende, faszinierende, auf Gspfel und in
Abgründe verlockende Wirbelmusik (im Vorüberzieben).
Die tiefsinnigen Verwunderungen über das „Leben' und den „Ruf des
Lebens' im Schnitzlerschen Schauspiel sprießen eben aus dieser Doppel¬
deutung des Begriffs. Aber wie man ihn immer deuten mag, nie läßt
sich der Begriff „Tod“ als sein Kontrast auslegen. Auch wenn man mit
den Augen des klugen Arztes die Welt betrachtet, erscheint der Tod nicht
als Gegensatz, sondery' als Teil, als Stück, als Form des Lebens. Für
diesen pantheistischen Mann darf es ja, denkt er konsequent, gar keinen Tod
geben. Leben heißt ihm: empfinden. Irgend etwas. Lust oder Schmerz,
Resignation oder Verzweiflung, einen schönen oder häßlichen Sinneseindruck,
den schlaffen oder starken Reiz eines Gedankens, einen Vorgang, eine
Ruhe. In gewissem Sinn ist er unsterblich. Der eigene Tod muß ihm
reine Fiktion sein, da er sich weder denken noch empfinden läßt. Dies
hieße ja: empfinden, daß man nichts empfindet.
Auch den andern, den nach konzentrierten Augenblicken Begehrlichen,
mag der Tod nur eine finstere Variante des Daseins, vielleicht dessen
stärkste Sensation bedeuten. Gerade aus ihm, so parador es scheint, mag
ibnen der Ruf des Lebens aufs lauteste tönen. Eine geniale Frau schrieb
in ihr Tagebuch: „Der Tod ist das einzige Erlebnis, um dessentwillen es
sich verlohnt, auf die Welt gekommen zu sein.“
Die Philosophie über letzte Dinge dünkt mich des Stückes schwächster
Teil. Aber sehr fein und virtuos die eigentümliche knappe Relieftechnik,
in der hier Tod und Leben aneinandergesetzt sind. Und wenn auch nicht
gerade Tiefes von den Problemen gesagt wird, die an des Daseins Grenzen
lagern, so schwebt es doch über dem Drama wie dichterische Ahnung des
geheimnisvollen Spuks, der an jenen Grenzen sein zynisch=schreckhaftes
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Der Ruf des Lebens von Alfred Polgar
ine schöne, wunderlichs Komödie, eilig zwischen Tod und Leben hin
4 und wider wandelnd, brutal und zart, tieftraurig=resigniert und doch
sanft schimmernd von mancherlei milden Zuversicht, voll Blut und
Leidenschaft und Schwermut und lyrischer Verschnörkelung, voll großer
Fragen und bescheidener Antworten, zweifelnd, anklagend, entschuldigend,
unempfindlich und empfindsam, überlegen bis zur Demnt (als der Ueber¬
legenheit letzte Konsequenz) und pathetisch bis zur Einfachheit (als des
Pathos sublimster Spitze).
Der Begriff: Leben erscheint in diesem Drama vielfältig dialektisch
gespalten. Der kluge Arzt und der skeptische Offizier verstehen unter
Leben schlechtweg: esse; das Vorhandensein allgemeinster physiologischer
Voraussetzungen. Die Jugend im Stück versteht unter Leben: Erleben;
intensive Stunden, große Inhalte, Höchst=Spannungen des Organismus,
Abenteuer und Außerordentliches, Räusche und Ekstasen. Der Ruf des
Lebens ist für die einen: ein ruhiger, über allen Dingen schwebender, ewiger
Ton; für die andern eine hinreißende, faszinierende, auf Gspfel und in
Abgründe verlockende Wirbelmusik (im Vorüberzieben).
Die tiefsinnigen Verwunderungen über das „Leben' und den „Ruf des
Lebens' im Schnitzlerschen Schauspiel sprießen eben aus dieser Doppel¬
deutung des Begriffs. Aber wie man ihn immer deuten mag, nie läßt
sich der Begriff „Tod“ als sein Kontrast auslegen. Auch wenn man mit
den Augen des klugen Arztes die Welt betrachtet, erscheint der Tod nicht
als Gegensatz, sondery' als Teil, als Stück, als Form des Lebens. Für
diesen pantheistischen Mann darf es ja, denkt er konsequent, gar keinen Tod
geben. Leben heißt ihm: empfinden. Irgend etwas. Lust oder Schmerz,
Resignation oder Verzweiflung, einen schönen oder häßlichen Sinneseindruck,
den schlaffen oder starken Reiz eines Gedankens, einen Vorgang, eine
Ruhe. In gewissem Sinn ist er unsterblich. Der eigene Tod muß ihm
reine Fiktion sein, da er sich weder denken noch empfinden läßt. Dies
hieße ja: empfinden, daß man nichts empfindet.
Auch den andern, den nach konzentrierten Augenblicken Begehrlichen,
mag der Tod nur eine finstere Variante des Daseins, vielleicht dessen
stärkste Sensation bedeuten. Gerade aus ihm, so parador es scheint, mag
ibnen der Ruf des Lebens aufs lauteste tönen. Eine geniale Frau schrieb
in ihr Tagebuch: „Der Tod ist das einzige Erlebnis, um dessentwillen es
sich verlohnt, auf die Welt gekommen zu sein.“
Die Philosophie über letzte Dinge dünkt mich des Stückes schwächster
Teil. Aber sehr fein und virtuos die eigentümliche knappe Relieftechnik,
in der hier Tod und Leben aneinandergesetzt sind. Und wenn auch nicht
gerade Tiefes von den Problemen gesagt wird, die an des Daseins Grenzen
lagern, so schwebt es doch über dem Drama wie dichterische Ahnung des
geheimnisvollen Spuks, der an jenen Grenzen sein zynisch=schreckhaftes
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