II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 325

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19. Der Ruf des Lebens
Wesen treibt; wie unartikulierte Stimmen, die vom Walten einer höhern,
nicht erkennbaren, sinnvoll=sinnlosen Welt=Ordnung reden.
Von der großartig=tückischen Mechanil, deren Geräusch wir Schicksal
nennen, wird ein kleines, möglichst viele Zusammenhänge demonstrierendes
Modell versucht. Es ist naturgemäß, daß die Sache ein wenig schematisch
ausfallen mußte. Wunderliche Symmetrien, Parallelismen, Ebenmäßigkeiten
Kören. (Man hat ein gleiches Gefühl etwa beim ersten Anblick von
Hodler=Bildern.) Aktschluß Eins und Aktschluß Zwei, zum Beispiel, sind, formal,
seltsam identisch. Bei beiden wird über einen eben gemordeten Menschen
dinweg durch die Tür geflohen (dem „Ruf des Lebens“ gefolgt). Aber
vielleicht wars akzentuierte Absicht, zu zeigen, daß der Weg zum Glück
durchaus über Leichen geht.
Der ganze zweite Akt ist so: Modell. Ein dramatischer Mikrokosmos.
Ein gedrängter Kursus durch die Nachtseiten der hellen Daseinsdinge:
Liebe, Ehre, Mut, Freundschaft. Ein kurz aufflammendes Spektrum
leidenschaftlichen Lebens. „Ich habe gesehen, wie Frauen betrügen, locken,
lügen, ebrlich sind und sterben, habe gesehen, wie Männer zittern, spielen,
höhnen und töten“ sagt Marie von dieser Viertelstunde.
Mir ist das bischen Verwischtheit an der Komödie überaus sympathisch.
Es ist ehrlich. Es bekennt, was alles Durchschauens von Zusammen¬
hängen unausweichlich letztes Ende, dies: es könnte wohl so sein, muß
aber nicht. Die Kausalität in diesem Drama hat eine Art dubiosen
Schillerns, die Tatsachen irisieren in allen Farben der Unwahrscheinlichkeit,
Voraussetzungen und Konklusionen tragen den Schnörkelschmuck vieler
Fragezeichen.
Es mag, für den zweiten Akt, gelten, daß die Fülle und Raschheit der
Aktion, die jähen Erscheinungen und pointierten Tode, besonders aber die
geringen Aufenthalte, die Gefühl und Intellekt der handelnden Personen
bei all den tragischen Plötzlichkeiten nehmen, dem Drama manches von der
Eckigkeit eines Marionettenspiels, von der steifen Eile einer Puppenkomödie
geben. Aber dieses stretta=Tempo, diese Wiedergabe eines großen Tat¬
sachenkompiexes in verkleinertem Maßstab, hat auch ihren Reiz. Der Ein¬
druck weiter Distanz wird vermittelt. Lebenslinien schließen sich zur
Schicksalsfigur zusammen. Mit einem Blick sind Anfang und Ende zu
umfassen. Zufall enthüllt sich als Notwendigkeit, und göttliche Gerechtig¬
keiten als Produkte einer unbegreiflichen, kalten, spielerischen Laune.
Schwer, gewallsam, massig sind die Schicksale, die „Der Ruf des
Lebens“ aufrollt; aber sie scheinen leicht und federnd durch das elastische
Retz von Zusammenhängen, das sie trägt. Die Ereignisse des Dramas
stehen zu einander in mannigfach proportionierten Verhältnissen, in Be¬
ziehungen, wie sie etwa zwischen Schall und Echo, Spiel und Gegenspiel
rechts und links herrschen (Beziehungen, die, ich erwähnte es schon, manchmal,
bis zur steifen Symmetrie stilisiert erscheinen). Da ist die Tochter des
bösen, alten Mannes, die durch den Zwang, der über ihrem Leben lastet,
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