19. Der Ruf des Lebens box 24/3
zur tragischen Figur wird; da ist die Tochter der guten, alten Frau, die
an der Freiheit zugrunde geht. Da ist ein Mann, der einst, als Soldat
auf verlorenem Posten, die Stimme der Pflicht nicht hörte, weil sie vom
Ruf des Lebens überschrien wurde. „In diesem Augenblick wußte ich
mit einem Male, daß sie uns all das, was uns auf den Fleck gebannt
hielt, hundert Ewigkeiten lang, nur vorlügen ... Ehre und Vaterland
nur vorlügen, um uns sicher zu haben! ... Wer lohnt mirs? Wer
dankt mirs?“ Dreißig Jahre später handelt die Tochter ganz konform dem
väterlichen Beispiel, läßt den verzweifelten Posten, flieht ins Leben, schüttelt
die Hypnose von Kindespflicht und =Liebe ab, die sie auf dem Fleck ge¬
bannt hielt hundert Ewigkeiten lang. Da ist der Oberst, der sein Re¬
giment dem Tode weiht. Ein heldisches, Ehrfurcht und demütige Be¬
wunderung abzwingendes Tun, wie es scheint. Aber halb und halb
schimmerts durch, daß der große Entschluß aus mystisch=trüben Zufalls¬
motiven erwuchs. Ganz ähnlich, wie der Oberst seinem Regiment, be¬
nimmt sich das Schicksal den Töchtern der Feau Toni Richter gegenüber.
Sie alle, die drei blühenden Mädchen, opfert es der Schwindsucht, dem
Tod. Warum? Welche Weisheit oder welcher Unsinn steckt dahinter?
Weich abgrundtiefe Logik oder welcher wütende Zufall? Die Menschen
fragen nicht, beugen ihr Haupt dem Geheiß von oben, weinen, lobpreisen
den ewigen Namen. Dieser Oberst ist wie der liebe Gott. „Unerforsch¬
licher Ratschlüsse“ voll, die Leute heimschickend „mit sublimen Worten“.
alles wissend, Schuldige mit dem Blitz der Rache treffend, Unschuldige
mit dem Blitz grausam=erhabener Entschließungen; und seine Anbeter
sprechen zu den Zweiflern: „Ihr versteht ihn alle nicht.“
„Man muß die Zusammenhänge begreifen!“ meint Leutnant Max.
Artbur Schnitzler sebt das Spiel mit dem Tod, um den Tod herum.
Auf dunkelsten Hintergrund malt er mit Vorliebe seine zierlichen Gefühls¬
arabesken, die witzig=wehmütigen Ornamente seiner feinen, delikaten Geistig¬
keit. Es ist manchmal billig. In Todes Nähe werfen auch kleine
Dinge, dürftige Menschen, schmächtige Gedanken imponierend breite Schatten.
Man könnte, wollte man nach diesen schätzen, über die Tiefen=Dimensionen
der aufgezeigten Gefühls= und Ideenweiten in optimistische Irrtümer sich
verrennen. Auch hier im „Ruf des Lebens“. Aber dieses Schauspiel,
mitsamt seinem liquidierenden, epilogischen dritten Akt, seiner blumigen
Schwermut und der Hyperämie seiner Tatsachen, birgt dichterische Schön¬
heiten und starke Stimmungen, die unvergeßlich bleiben.
Welch lieblich=aparte Figur, diese feine, kranke Katharina, im Zwielicht
von Todesmelancholie und Lebenslust flimmernd. Wie rührend ihre kindisch¬
weise Grausamkeit in dem kleinen Hymnus aufs Abschiednehmen. „Ab¬
schiednehmen ist süß“, sagt sie. „Wenn man erst weiß, wie kurz das
Leben ist, duftet jeder Abschied von einem neuen Morgen.“ Ein ge¬
fräßiger kleiner Raubvogel, und selbst schon sicherer Fraß eines andern,
der lautlos, gierig über ihm kreist. Wie eindrucksvoll die Stimmung zu
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zur tragischen Figur wird; da ist die Tochter der guten, alten Frau, die
an der Freiheit zugrunde geht. Da ist ein Mann, der einst, als Soldat
auf verlorenem Posten, die Stimme der Pflicht nicht hörte, weil sie vom
Ruf des Lebens überschrien wurde. „In diesem Augenblick wußte ich
mit einem Male, daß sie uns all das, was uns auf den Fleck gebannt
hielt, hundert Ewigkeiten lang, nur vorlügen ... Ehre und Vaterland
nur vorlügen, um uns sicher zu haben! ... Wer lohnt mirs? Wer
dankt mirs?“ Dreißig Jahre später handelt die Tochter ganz konform dem
väterlichen Beispiel, läßt den verzweifelten Posten, flieht ins Leben, schüttelt
die Hypnose von Kindespflicht und =Liebe ab, die sie auf dem Fleck ge¬
bannt hielt hundert Ewigkeiten lang. Da ist der Oberst, der sein Re¬
giment dem Tode weiht. Ein heldisches, Ehrfurcht und demütige Be¬
wunderung abzwingendes Tun, wie es scheint. Aber halb und halb
schimmerts durch, daß der große Entschluß aus mystisch=trüben Zufalls¬
motiven erwuchs. Ganz ähnlich, wie der Oberst seinem Regiment, be¬
nimmt sich das Schicksal den Töchtern der Feau Toni Richter gegenüber.
Sie alle, die drei blühenden Mädchen, opfert es der Schwindsucht, dem
Tod. Warum? Welche Weisheit oder welcher Unsinn steckt dahinter?
Weich abgrundtiefe Logik oder welcher wütende Zufall? Die Menschen
fragen nicht, beugen ihr Haupt dem Geheiß von oben, weinen, lobpreisen
den ewigen Namen. Dieser Oberst ist wie der liebe Gott. „Unerforsch¬
licher Ratschlüsse“ voll, die Leute heimschickend „mit sublimen Worten“.
alles wissend, Schuldige mit dem Blitz der Rache treffend, Unschuldige
mit dem Blitz grausam=erhabener Entschließungen; und seine Anbeter
sprechen zu den Zweiflern: „Ihr versteht ihn alle nicht.“
„Man muß die Zusammenhänge begreifen!“ meint Leutnant Max.
Artbur Schnitzler sebt das Spiel mit dem Tod, um den Tod herum.
Auf dunkelsten Hintergrund malt er mit Vorliebe seine zierlichen Gefühls¬
arabesken, die witzig=wehmütigen Ornamente seiner feinen, delikaten Geistig¬
keit. Es ist manchmal billig. In Todes Nähe werfen auch kleine
Dinge, dürftige Menschen, schmächtige Gedanken imponierend breite Schatten.
Man könnte, wollte man nach diesen schätzen, über die Tiefen=Dimensionen
der aufgezeigten Gefühls= und Ideenweiten in optimistische Irrtümer sich
verrennen. Auch hier im „Ruf des Lebens“. Aber dieses Schauspiel,
mitsamt seinem liquidierenden, epilogischen dritten Akt, seiner blumigen
Schwermut und der Hyperämie seiner Tatsachen, birgt dichterische Schön¬
heiten und starke Stimmungen, die unvergeßlich bleiben.
Welch lieblich=aparte Figur, diese feine, kranke Katharina, im Zwielicht
von Todesmelancholie und Lebenslust flimmernd. Wie rührend ihre kindisch¬
weise Grausamkeit in dem kleinen Hymnus aufs Abschiednehmen. „Ab¬
schiednehmen ist süß“, sagt sie. „Wenn man erst weiß, wie kurz das
Leben ist, duftet jeder Abschied von einem neuen Morgen.“ Ein ge¬
fräßiger kleiner Raubvogel, und selbst schon sicherer Fraß eines andern,
der lautlos, gierig über ihm kreist. Wie eindrucksvoll die Stimmung zu
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