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19. Der Ruf des Lebens
Beginn des zweiten Aktes, dieser nächtig=stille Kasernhof mit den spärlichen
Zeichen von Wachsamkeit; im Gespräch zwischen den Menschen des tod¬
geweihten Regiments, zwischen Oberst und Leutnant, Leutnant und Unter¬
offizier, ein eigentümlicher Unterton von Weichheit bei allem Ehrfurchts¬
zeremoniell; ein süßer Tropfen Menschlichkeit rinnt durch die soldatisch
kurze und strenge Rede; von der Sterbensgewißheit sind die Seelen
schon wie gelockert in ihrem Gehäuse; klingen fast.
Eigenartig ist die Sprache dieses Schnitzler=Dramas. Die richtige
schwungvolle, schön flammende Diktion des bürgerlichen Trauerspiels. Eine
in Poesie gebeizte, gesteifte Prosa. Seltsam, wenn ein Leutnant in kamerad¬
schaftlicher Unterredung, aus dem Stegreif, ausruft: „Ach, nie mehr an
blühenden Lippen hängen, vom Duft zitternder Brüste umweht!“ Manchmal
streckt sich der Dialog, bis er fast als Vers erscheint, so stramm rhythmisch
geplättet: „Nun bin ich aber da.“ — „Wie wagtest du dich fort?“ —
„Er ist noch nicht dabeim!“
Man mag in das Schnitzler=Drama manches hineindeuten oder manches
aus ihm herauslesen, was nicht darin steht. Immerhin. Ob gutes Können
des Schriftstellers oder guter Wille des Lesers: es spricht schon für die
hohe Qualität einer Dichtung, wenn sie so sehr wie dieser „Ruf des Lebens“
zum Deuten, Mitfühlen und Mitdichten lockt.
Im wiener Deutschen Volkstheater findet der „Ruf des Lebens eine
liebevolle, zum Teil musterhafte Darstellung. Manches, im zweiten Akt
besonders, kann man sich dramatisch straffer denken, von dunklerer Re¬
sonanz und intensiverer Stimmung. Doch mögen, gegenüber dem schönen
sorgfältigen Ganzen dieser Aufführung, Detaileinwände schweigen. Sehr
angenehm und wirksam Herr Kramer, wenn er auch nicht die konzentrierte
Kraft für die knappe Bübnen=Viertelstunde des Lentnants Max aufbringt,
in die so viel Schicksal, Ekstase, Verzweiflung und Furor hineingepreßt ist,
in der alle Linien des tragischen Geschebens so kübn perspektivisch verkürzt
erscheinen. Trefflich gelang solche Darstellung eines gedrängtesten Schicksals,
eines Extrakt=Schicksals gewissermaßen, dem Fräulein Marberg, die meteor¬
gleich erschien, flammte und erlosch. Seinen schauspielerischen Glanz
empfing der Schnitzler=Abend von den Damen Hannemann und Müller.
Fräulein Hannemann hat einen wundervollen Ton für Herzensnot, das
schönste, stolzeste Leidbewußtsein („blübendes Leid“, empfindet man), und
ihr Wesen, wenn es in Brand steht, flammt weiß und stark in seltener
Leuchtkraft. Ich finde auch einen eigenartigen Reiz in dem Kontrast zwischen
ihrem herben Organ und der weichen Traurigkeit um Mund und Augen.
Ein stolzer Mensch und eine hingebungsvolle Frau: das sind die
zwei wesentlichen Komponenten ihrer schauspielerischen Art. Fräulein
Müller trug die schwere Rolle des schwindsüchtigen, lebenshungrigen
Die eigentümliche Poesie dieses letalen Lebens= und Liebes¬
Mädche
bungert brachte sie sehr fein. Ein flackernder, bektischer Glanz war um
das ganze Persönchen, in ihren Augen, ihrer Stimme (von wenigen Augen¬
716
blicken allzu süß=kindischen Gezirpes abgesehen), um ihre ganze huschende,
geheimnisvolle, krankhafte Fröhlichkeit. Sie spielte das sehr hübsch, wie
dieses junge Geschöpf, vom drohenden Blick des Todes fasziniert, in
einem unablässigen angstvoll=wonnigen Tanzrausch hinflattert. Eine Motte,
die gebannt ums Dunkel schwirrt. Dabei hatte ihre Sprache manchmal
einen ergreifend visionären, körperlosen, kühlen Klang; der Schatten eines
Tons. Ich werde die schauernde, gleichsam nächtige Stimme nicht ver¬
gessen, mit der sie, den Abschied von ihrem todgeweihten Liebsten erzählend,
nach den Worten: „Er war jung vor einer Siunde“ hinzufügte: „Uralt
ist er heute!“
19. Der Ruf des Lebens
Beginn des zweiten Aktes, dieser nächtig=stille Kasernhof mit den spärlichen
Zeichen von Wachsamkeit; im Gespräch zwischen den Menschen des tod¬
geweihten Regiments, zwischen Oberst und Leutnant, Leutnant und Unter¬
offizier, ein eigentümlicher Unterton von Weichheit bei allem Ehrfurchts¬
zeremoniell; ein süßer Tropfen Menschlichkeit rinnt durch die soldatisch
kurze und strenge Rede; von der Sterbensgewißheit sind die Seelen
schon wie gelockert in ihrem Gehäuse; klingen fast.
Eigenartig ist die Sprache dieses Schnitzler=Dramas. Die richtige
schwungvolle, schön flammende Diktion des bürgerlichen Trauerspiels. Eine
in Poesie gebeizte, gesteifte Prosa. Seltsam, wenn ein Leutnant in kamerad¬
schaftlicher Unterredung, aus dem Stegreif, ausruft: „Ach, nie mehr an
blühenden Lippen hängen, vom Duft zitternder Brüste umweht!“ Manchmal
streckt sich der Dialog, bis er fast als Vers erscheint, so stramm rhythmisch
geplättet: „Nun bin ich aber da.“ — „Wie wagtest du dich fort?“ —
„Er ist noch nicht dabeim!“
Man mag in das Schnitzler=Drama manches hineindeuten oder manches
aus ihm herauslesen, was nicht darin steht. Immerhin. Ob gutes Können
des Schriftstellers oder guter Wille des Lesers: es spricht schon für die
hohe Qualität einer Dichtung, wenn sie so sehr wie dieser „Ruf des Lebens“
zum Deuten, Mitfühlen und Mitdichten lockt.
Im wiener Deutschen Volkstheater findet der „Ruf des Lebens eine
liebevolle, zum Teil musterhafte Darstellung. Manches, im zweiten Akt
besonders, kann man sich dramatisch straffer denken, von dunklerer Re¬
sonanz und intensiverer Stimmung. Doch mögen, gegenüber dem schönen
sorgfältigen Ganzen dieser Aufführung, Detaileinwände schweigen. Sehr
angenehm und wirksam Herr Kramer, wenn er auch nicht die konzentrierte
Kraft für die knappe Bübnen=Viertelstunde des Lentnants Max aufbringt,
in die so viel Schicksal, Ekstase, Verzweiflung und Furor hineingepreßt ist,
in der alle Linien des tragischen Geschebens so kübn perspektivisch verkürzt
erscheinen. Trefflich gelang solche Darstellung eines gedrängtesten Schicksals,
eines Extrakt=Schicksals gewissermaßen, dem Fräulein Marberg, die meteor¬
gleich erschien, flammte und erlosch. Seinen schauspielerischen Glanz
empfing der Schnitzler=Abend von den Damen Hannemann und Müller.
Fräulein Hannemann hat einen wundervollen Ton für Herzensnot, das
schönste, stolzeste Leidbewußtsein („blübendes Leid“, empfindet man), und
ihr Wesen, wenn es in Brand steht, flammt weiß und stark in seltener
Leuchtkraft. Ich finde auch einen eigenartigen Reiz in dem Kontrast zwischen
ihrem herben Organ und der weichen Traurigkeit um Mund und Augen.
Ein stolzer Mensch und eine hingebungsvolle Frau: das sind die
zwei wesentlichen Komponenten ihrer schauspielerischen Art. Fräulein
Müller trug die schwere Rolle des schwindsüchtigen, lebenshungrigen
Die eigentümliche Poesie dieses letalen Lebens= und Liebes¬
Mädche
bungert brachte sie sehr fein. Ein flackernder, bektischer Glanz war um
das ganze Persönchen, in ihren Augen, ihrer Stimme (von wenigen Augen¬
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blicken allzu süß=kindischen Gezirpes abgesehen), um ihre ganze huschende,
geheimnisvolle, krankhafte Fröhlichkeit. Sie spielte das sehr hübsch, wie
dieses junge Geschöpf, vom drohenden Blick des Todes fasziniert, in
einem unablässigen angstvoll=wonnigen Tanzrausch hinflattert. Eine Motte,
die gebannt ums Dunkel schwirrt. Dabei hatte ihre Sprache manchmal
einen ergreifend visionären, körperlosen, kühlen Klang; der Schatten eines
Tons. Ich werde die schauernde, gleichsam nächtige Stimme nicht ver¬
gessen, mit der sie, den Abschied von ihrem todgeweihten Liebsten erzählend,
nach den Worten: „Er war jung vor einer Siunde“ hinzufügte: „Uralt
ist er heute!“