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19. Der Ruf des Lebens
Dr. Bans Wantoch.
Zehnminutenrückblick.
Das erste Bühnenvierteljahr ist vorüber, und unsere tief¬
gebeugten Erwartungen wurden von den Theatergeschehnissen kaum
fingerbreit übertroffen. Der Beginn der Wiener Premièrensaison
war ein Rückgriff auf die Kunst von gestern und ehegestern. Das
Raimund=Theater beschwor uns für anderthalb Abende Franz Nissels
„Zauberin vom Stein“ herauf und erzwang von unserer besseren
Lebens= und edleren Kunsterfahrung mit der Aufführung der „Hochzeit
von Valeni“ nur eine Nervenreaktion des Widerwillens. Herrn
Weisse trieb der verjährige Mißerfolg Paul Schlenthers mit „Lady
Tartüffe“ auf die Suche nach anderen Fassungen der Molièreschen
Lustspielidee und ließ ihn Gutzkows „Urbild des Tartüffe“ entdecken,
dessen Witzlosigkeit bloß ein Lächeln über den direktorialen Fehl¬
griff entlockt. Seine halben Versuche, zu herabgesetzten Preisen die
klassische Kunst zu erneuern, zerschellen an dem Unvermögen seiner
Spieler, die großen Dichtungen der Vergange, heit zum Ausdruck
Aneuzeitlichen Empfindens zu machen. Die Aufführung von Grill¬
parzers „Weh dem, der lügt!“ schwankte stillos zwischen Posse und
Melodram, und bei der „Don=Carlos“=Feier erhoben sich nur zwei
oder drei mimische Leistungen über das Niveau alltäglicher Durch¬
schnittlichkeit. Hingegen gestalteten Maran und Niese die Darstellung
des „Eingebildeten Kranken“ zum künstlerischen Erlebnis.
Sonst darf aus den negativen Kassenrapporten der Jarnoschen
Bühnen die beglückende Tatsache festgestellt werden, daß die breite
Menge des ewig gleichen Boulevardschmarrens überdrüssig ist. Von
acht Pariser Possen, die uns von unterschiedlichen Wiener Theatern
vorgespielt wurden, bestrickte nur Abel Hermants geistvolle Laszwität
„Im Luxuszug“. Die funkelnde Regiekunst Ad. Steinerts gab uns
in der Hautgoutstimmung dieser Komödie den morbiden Zauber
der Odilon=Zeit zurück. Eine von der Kritik hochgepriesene Dichtung,
„Don Juans letztes Abenteuer“ von Otto Anthes, vermochte er
jedoch nicht zu gleichem Erfolg zu führen. Trüber stimmt es, daß
dem Wiener Publikum für die Skepsis Bernard Shaws, der sich
mit einem Paradoxon über seine verzweiflungsvollen Zweifel hinüber¬
hilft, kein Organ gewachsen ist.
Der Beifall der Menge fiel Nevenreißern gröbsten Kalibers
zu. Dario Nicodemis „Die Zuflucht“ siegte durch die Kunst Emmy
Schrotts und Josef Jarnos, der uns durch die Verkörperung eines
Einsamen mit seiner ergreifend verhaltenen Leidenschaftlichkeit den
Wunsch erweckt hat, von ihm den Borkmann dargestellt zu sehen.
Bei Henry Batailles unmöglicher Taktlosigkeit „Der Skandal“ finde
ich für den Applaus des Publikums keine mildernden Umstände in
ungewöhnlichen mimischen Leistungen. Daß der brutale „Spannungs¬
wert“ einer Ehebruchskomödie mit ungeminderter Kraft auf Herrn
Omnes einwirkt, ist ein bedrückendes Zeichen künstlerischer Unkultur
und rohen Empfindens. Seine lärmende Freude an Harmlosigkeiten
19. Der Ruf des Lebens
Dr. Bans Wantoch.
Zehnminutenrückblick.
Das erste Bühnenvierteljahr ist vorüber, und unsere tief¬
gebeugten Erwartungen wurden von den Theatergeschehnissen kaum
fingerbreit übertroffen. Der Beginn der Wiener Premièrensaison
war ein Rückgriff auf die Kunst von gestern und ehegestern. Das
Raimund=Theater beschwor uns für anderthalb Abende Franz Nissels
„Zauberin vom Stein“ herauf und erzwang von unserer besseren
Lebens= und edleren Kunsterfahrung mit der Aufführung der „Hochzeit
von Valeni“ nur eine Nervenreaktion des Widerwillens. Herrn
Weisse trieb der verjährige Mißerfolg Paul Schlenthers mit „Lady
Tartüffe“ auf die Suche nach anderen Fassungen der Molièreschen
Lustspielidee und ließ ihn Gutzkows „Urbild des Tartüffe“ entdecken,
dessen Witzlosigkeit bloß ein Lächeln über den direktorialen Fehl¬
griff entlockt. Seine halben Versuche, zu herabgesetzten Preisen die
klassische Kunst zu erneuern, zerschellen an dem Unvermögen seiner
Spieler, die großen Dichtungen der Vergange, heit zum Ausdruck
Aneuzeitlichen Empfindens zu machen. Die Aufführung von Grill¬
parzers „Weh dem, der lügt!“ schwankte stillos zwischen Posse und
Melodram, und bei der „Don=Carlos“=Feier erhoben sich nur zwei
oder drei mimische Leistungen über das Niveau alltäglicher Durch¬
schnittlichkeit. Hingegen gestalteten Maran und Niese die Darstellung
des „Eingebildeten Kranken“ zum künstlerischen Erlebnis.
Sonst darf aus den negativen Kassenrapporten der Jarnoschen
Bühnen die beglückende Tatsache festgestellt werden, daß die breite
Menge des ewig gleichen Boulevardschmarrens überdrüssig ist. Von
acht Pariser Possen, die uns von unterschiedlichen Wiener Theatern
vorgespielt wurden, bestrickte nur Abel Hermants geistvolle Laszwität
„Im Luxuszug“. Die funkelnde Regiekunst Ad. Steinerts gab uns
in der Hautgoutstimmung dieser Komödie den morbiden Zauber
der Odilon=Zeit zurück. Eine von der Kritik hochgepriesene Dichtung,
„Don Juans letztes Abenteuer“ von Otto Anthes, vermochte er
jedoch nicht zu gleichem Erfolg zu führen. Trüber stimmt es, daß
dem Wiener Publikum für die Skepsis Bernard Shaws, der sich
mit einem Paradoxon über seine verzweiflungsvollen Zweifel hinüber¬
hilft, kein Organ gewachsen ist.
Der Beifall der Menge fiel Nevenreißern gröbsten Kalibers
zu. Dario Nicodemis „Die Zuflucht“ siegte durch die Kunst Emmy
Schrotts und Josef Jarnos, der uns durch die Verkörperung eines
Einsamen mit seiner ergreifend verhaltenen Leidenschaftlichkeit den
Wunsch erweckt hat, von ihm den Borkmann dargestellt zu sehen.
Bei Henry Batailles unmöglicher Taktlosigkeit „Der Skandal“ finde
ich für den Applaus des Publikums keine mildernden Umstände in
ungewöhnlichen mimischen Leistungen. Daß der brutale „Spannungs¬
wert“ einer Ehebruchskomödie mit ungeminderter Kraft auf Herrn
Omnes einwirkt, ist ein bedrückendes Zeichen künstlerischer Unkultur
und rohen Empfindens. Seine lärmende Freude an Harmlosigkeiten