II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 338

19. Der Ruf des Lebens box 24/3
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wie Leons und Felds „Der große Name“ spricht nur gegen seine
geistige Reife. Bei Marco Brociners „Hinter dem Vorhang“ war
der überschwängliche Jubel um einige Teilstriche berechtigter. Doch
immerhin scheint das Durchschnittsniveau des Geschmacks ein wenig
höher zu liegen als in den letzten Jahren. Das beweist nicht nur
der Rückgang in der Zugkraft der Boulevardposse, sondern auch
die überlegene Ablehnung der Tarockwitzigkeit Hans Müllers. In
„Hargudl am Bach“ parodiert er ein Übermädel, das ihm als
Ausdruck allermodernster Überspanntheit gilt, nach meiner geschicht¬
lichen Kenntnis von den unterschiedlichen Karikaturen der Zeit¬
strömungen aber hart vor der Großmutterschaft stehen müßte. Denn
vor fünfzehn oder zwanzig Jahren soll es solche unnatürliche Weib¬
naturen gegeben haben; ich weiß es nicht, aber man sagt es; daß sie
heute nicht mehr existieren, weiß ich jedoch. Hans Müller hat also
eine Wirklichkeit parodiert, die eine bloße Einbildung ist, und das
Schlimmste, was dem Satiriker begegnen kann, geschieht: seine Persi¬
flage wird zur Selbstparodie seiner Weltfremdheit. Dennoch wird"
dieser Mann nachdrücklich in der Wiener Theatergeschichte genannt“
werden müssen; denn seine Lächerlichkeit machte die Direkton Pau
Schlenther unmöglich. Wir verschmähen es, dieser abgetanen Größe¬
ein Pamphlet mehr nachzuschleudern. Aber es soll dem Herostrates
am Franzensring unvergessen bleiben, daß er vor Jahren schon
Karl Schönherr an die Burgbühne gebracht hat. Freilich vermochte
der Halberfolg: „Über die Brücke“ die drei Kläglichkeiten dieses
Hoftheaterjahres nicht aufzuwiegen; aber in minder erregter Zeit
hätte Schönherr eine liebevollere Empfänglichkeit gefunden.
Neben Schönherr sanken in der Trostlosigkeit dieses Winters
auch zwei andere sieghafte Fahnen auf Halbmast. Die Komödie
des nonchalanten Hofrats Max Burckhard, der endgültig seine
Lebensaufgabe in der Anrempelung der österreichischen Verwaltung
erblickt hat, wurde nicht belacht, sondern ausgelacht. Und Artur
Schnitzlers „Ruf des Lebens“ fand zwar des Publikums Gefallen,
Faber das Weltbild dieser Dichtung überragt nicht das Weltbild
keiner jungfräulichen anima candida, deren Unschuld sich von dem
Ereignis vor Erscheinen des Storches alle Holdseligkeit des Daseins
erträumt. Das gleiche Geschick wie diesen beiden heimischen Dra¬
matikern fiel auch zwei fremden Dichtern zu. Hartlebens bläßliche
Polemik gegen das bourgeoise Liebesleben in der „Erziehung zur
Ehe“ geht an einem echten Lustspielmotiv vorüber, und Andrejews
„Ssawa“ beweist dem gesunden Menschenverstand zum Überfluß,
daß es keine Wunder gibt. Auch diese beiden Premièren des Lust¬
spieltheaters waren ohne dauernde Kunst= und Kassenwirkung. Von
bleibendem künstlerischen Wert wird nebst Shaws „Arzt am Scheide¬
weg" und Molières „Eingebildetem Kranken“ nur das Gastspiel
Frank Wedekinds sein.
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