II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 372

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19. Der Ruf des Lebens
Telenho12—

FEn. Budapest, Chicago, Christiania, Gent, Kopen¬
nagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis, New-Vork,
Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Petersburg.
(Quellenangabe ohne Gewähr).
Ausschnitt aus: 74 4. 1909
vom:
Bersches Abendblatt, Prag
Neues deutsches Theater.
„Der Ruf des Lebens.“
Schauspiel in drei Akten von Arthur Schnitzler.
Zum erstenmale.
Schnitzler, einer der liebenswürdigsten Poeten
der neuen Wiener Richtung ist Arzt; die Phathologie
ist auch der Grundzug seiner dichterischen Arbeiten,
in denen er mit Vorliebe das Problem des Todes
behandelt — ein Problem, das für den ernsten
Denker nur die unvermeidliche Kehrseite der Leben:¬
freude darstellt. Ein solches Spiel mit dem Sensen¬
mann, vor dessen Angesicht sich ein armes gequältes
Menschenkind sinnlos in den Strudel des wild auf¬
schäumenden Lebens stürzt, ist unsere jüngste Neuheit.
Das Schauspiel wurde bereits im Jahre 1909 im
Berliner Lessingtheater aufgeführt. Schnitzler hat
seitdem einige Aenderungen daran vorgenommen,
die sich zumeist auf die Dialogform beziehen und
die Handlung des Stückes unverändert lassen. Im
Mittelpunkte der fast überreichen Vorgänge steht
Marie, die junge, lebensheischende Tochter des alten
Moser. Dieser hat vor 30 Jahren als Rittmeister
seine Eskadron vor dem Feinde zur Flucht veran¬
laßt und so das ganze Regiment der blauen Kü¬
rassiere mit Schmach bedeckt. Jetzt ist wieder Krieg;
die blauen Kürassiere rücken wieder gegen den Feind
aus; aber diesmal wollen sie die bis heute unge¬
fühnte Schmach wieder gut machen — bei der
nächsten blutigen Affaire stellen sie sich freiwillig an
die gefährlichste Stelle um bis auf den letzten Mann
den Heldentod zu sterben. Der alte Moser, im er¬
drückenden Bewußtsein seiner damals verübten Feig¬
heit, quält sich und seine ihn aufopfernd pflegende
Tochter bis aufs Blut. Doch tief in ihrer Brust
hegt sie eine schöne Erinnerung: eine selige Ball¬
nacht, die sie mit einem jungen Offizier einmal
durchgetanzt hat. Eben dieser Offizier soll morgen.
Früh mit den totgeweihten blauen Kürassieren ins
Feld ziehen. Da erfaßt das schon verzweifelnde Mädchen
ein unbezwingliches Verlangen, wenigstens einmal in
vollen Zügen das Leben zu genießen. Sinnlos von
ihrem aufschreiendem Blute, gibt sie dem kranken
Vater einen Schlaftrunk der — wie der Arzt sagt —
für 100 Nächte reicht, und eilt zu dem todgeweihten
Geliebten, um sich ihm für eine wilde Nacht hinzu
geben. Sie findet ihn — im Banne einer anderen,
der Frau seines Obersten, die ihn überreden will zu
desertieren und mit ihr ins lachende Leben hinaus
zu fliehen. Hier wird das arme von Liebesqualen
erbebende Mädchen Zeuge wie der beleidigte Gatte
erscheint, seine treulose Frau niederschießt und dem
ehrlosen Verführer bitteren Hohnes den Rat gibt,
selbst Hand an sich zu legen. Und trotzdem fliegt sie
dem Ideal ihrer überhitzten Einbildungskraft an den
Hals. Die beiden ersten Akte sind atemversetzende
Meisterwerke lückenlos fest gefügter Motivierungskunst
und der Dialog, Schnitzlers stärkste Seite, ent¬
hüllt uns eine Welt von abgeklärter Weisheit und
Güte. Der Schlußakt verglimmt in lyrischen Aus¬
klängen. Schnitzler sieht in der tragischen Heldin
nicht eine Schuldige, er ist der warmfühlende Arzt,
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