II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 383

Bigélauer Cheater.
II. II. Breslauer Sommertheater (Liebich). „Der Ruf
des Lehens“ Es muß für jeden Dramatiker etwas Verlockendes
haben, sein Werk auf Voraussetzungen aufzubauen, die eine ungewöhmlich
rasche Entwickelung, wie sie die kurzen Akte eines Dramas bedingen,
nicht nur als wahrscheinlich, sondern als notwendig erscheinen lassen..
So sehen wir denn in einer größeren Zahl von Dramen als Voraus¬
setzung die Gewißheit des baldigen Todes, die alle Rücksichten und Be¬
denken verblassen läßt, zu raschem Genießen einer letzten seligen Stunde
drängt, alle Leidenschaften entflammt und Herz zu Herzen treibt. Die
Schauer der Todesgewißheit, aus denen ein allzu kurzes letztes Liebesglück
erblüht, hat unter den modernen Dramatikern Georg Engel in seinem
„Hexenkessel“ vielleicht am glücklichsten dramatisch verwertet. Auch in
Schnitzlers „Ruf des Leben“ dreht es sich, wie im „Hexen¬
leer ganzes Regiment, das dem sicheren Untergange geweiht
ist, dessen Offiziere geschworen haben, daß keiner lebend zurückkehrt, um
so die alte Schmach zu sühnen, daß das Regiment vor einem Menschen¬
alter geflohen ist und damit das Schicksal einer Schlacht und des ganzen
Krieges entschieden hat. Aber Schnitzler schädigt seine Wirkung nicht
nur dadurch, daß er nach alter Gewohnheit seine Figuren viel zu viel
und viel zu klug über ihr Schicksal reden läßt, sondern daß
er den „Ruf des Lebens“ in zu viel Varianten ertönen
läßt. Da ist Marie, die Tochter eines alten, widerwärtigen, brutal
egoistischen ehemaligen Rittmeisters, die den rettungslos dem Tode ver¬
fallenen Vater mit der größten Hingebung pflegt, ohne auch nur eine
Sekunde von seinem Lager weichen zu können. Aber in ihrem jungen
Herzen leben heiße Wünsche, und als e hört, daß der Offizier, den sie
lieht, zu den blauen Kürassieren, eben jenem totgeweihten Regiment,
zehört, das am nächsten Morgen ausrückt, und als sie vollends hört,
daß ihr eigener Vater damals vor dreißig Jahren, aus ganz simpler
riebe zum Leben, das Beispiel zur Flucht gegeben hat, und so daran
chuld ist, daß jetzt hunderte blühender Menschen ihr Leben opfern wollen,
za gibt sie dem Vater genügend von jenen Tropfen, durch die schon
Gretchens Mutter „zur langen, langen Pein hinüberschlief“, und eilt
iu dem Geliebten, weil sie dem Ruf des Lebens nicht länger wider¬
lehen kann und will. Dieser erste Akt bringt zwar manches Quälende,
st aber von starker Wirkung; es ist eigentlich ein in sich abgeschlossener,
raftholler Einakter. Aber im zweiten Akte häufen sich die Effekte und
komplikatior n zu sehr. Der Offizier, zu dem Marie nächt¬
ich eilt, hat ein Verhältnis mit des Obersten junger
Frau, die ihn verleiten will, mit ihr zu fliehen, zumal der
Oberst den Todesentschluß für das ganze Regiment weniger aus
Heldenmut, als aus egoistischen Motiven gefaßt hat. Der Oberst über¬
rascht beide; er erschießt seine Frau, und auch der junge Offizier erschießt
sich auf Morgen vor dem Ausmarsch, nachdem er vorher noch mit Marie,
die alles hinter einem Vorhang (!) belauscht hat, einige Stunden heißen
Liedesglückes genossen. Der Schlußakt bringt einige recht wortreiche
Unterhaltungen über das Thema, daß von des Lebens Gütern allen der
Ruhm nicht das höchste ist, sondern daß das Leben selbst das höchste Gut ist;
auch bringt er noch das reichlich rührselige Ende einer Cousine von Marie,
die gleichfalls in der sicheren Aussicht des Todes — sie weiß, daß sie wie
ihre Schwestern an Schwindsucht sterben muß — den Rest ihres jungen
Lebens in einem tollen Liebesrausch ausgelostet hat. Dieser letzte Alt
vermochte kaum noch einen Achtungserfolg zu erzielen, während die beiden
ersten Akte nicht ohne Wirkung blieben. — Unter den Darstellern stand
an erster Stelle Frau Horwitz als Marie. Diese stille, resignierte
Verzweiflung, dieses trotzige Hervorbrechen eines heißen, ungestümen
Lebensdranges, diese wilden Selbstanschuldigungen konnten kaum besser
zur Geltung gebracht werden. Auch Herr Ziegel als Oberst in seiner
undurchdringlichen Ruhe und festen Entschlossenheit, in seinem großen,
wortkargen Schmerze hot eine vortreffliche Leistung. Geradezu überraschend
gut wer Herr Nunberg als der alte Vater Mariens, der nichts kennt,
als die zitternde Angst um das kümmerliche Restchen seines Lebens. Dieser
Künstler, der sonst zumeist nur kleine Chargen mit wechselndem Erfolge
zu spielen hatte, schien plötzlich ganz über sich herauszuwachsen und schuf
eine von Anfang bis zu Ende einheitlich durchgeführte, durchaus echte
Verkörperung dieses alten Satans. Fräulein Rakaricz war im
letzten Alt ihrer Rolle nicht gewachsen. Es ist aber auch eine verzwickte
Sache. Ophelia und Kameliendame gleichzeitig zu spielen, ist viel ver¬
langt von einer Schauspielerin. Herr Dr. Landsberg als gütiger,
weltkluger Arzt, und Herr Keßler als unglücklich liebender Forst¬
adjunkt waren besser am Platze als die Herren Kober und Goebel
in ihren Offiziersrollen. So war auch die Darstellung ungleichwertig)
und vermochte trotz der trefflichen Regie des Herrn Ziegel dem Werzé
auch zu nicht mehr zu verhelfen, als zu einem sogenannten literarischen
Erfolae 10
Telephen 12.391.
„UDSERTER
##. öaterr. bekördl. konz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschultte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
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burg, Toronto.
(Guelenangabe ehne Gewdnr.)
Müncicot Kaueste Rachrichter
Ausschnitt aus:
25. AUG. 1908
vom:
oem. „Der Ruf des Lebens“, das dreiaktige
Schauspiel von Arthur Schnitzler, ist nach dem
ner Lessing¬
Mißerfolge der Uraufführ
Theater vom Dichter umgearbeitet worden und er¬
zielte am Freitag in der neuen Fassung am Bres¬
lauer Sommertheater namentlich nach den ersten
beiden Akten großen Erfolg, der jedoch zum Schluß
merklich abflaute, da dieses von Blut geradezu trie¬
fende Schicksalsdrama in seiner ungeschlachten An¬
lage und dementsprechenden Ausführung kaum ge¬
eignet ist, auf die Duuer das Interesse des Zu¬
schauers wach zu erhalten.