II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 408

seine ethische Aufgabe, daß er dem Zuseher und
—hörer ungeschminkte Welt= und Menschenkenntnis
berichtet; er wirkt durch den Gegensatz zum Schönen
für das Schöne, schreckt ab vom Häßlichen und
warnt. Wenn aber der Dichter gar nichts anderes
zu tun zu haben scheint, als alles Widerliche, Un¬
edle, Verächtliche, den Abfall des gesellschaftlichen
Lebens in einem Winkel zusammenzukehren, um
diesen Wust dann schließlich dem geduldigen Thea¬
tergast ins Gesicht zu werfen — so darf doch dieser
darob entrüstet sein! — Dergleichen geschieht hier:
der Verfasser betreibt ja auch in anderer Form, in
einem Buche, den Antimilitarismus statt in
Proletarier= in Intelligenzkreisen, und zwar da¬
durch, daß er die Offiziersehre systematisch befleckt;
er stellt hier das Leben einer kleinen Garnison
(a la Bilse) in einer ganzen Reihe von Herren
dar, die während langer Friedenszeit des Kaisers
Rock — nicht in Ehren tragen. Ehebruch, Ver¬
führung und Mangel an jeder idealen Lebens= und
Berufsauffassung verzerrt bei den Jüngeren das
Bild des braven Soldaten; und an der Spitze die¬
ser traurigen Gesellschaft steht ein ganz alter Pen¬
sionist, der als Rittmeister vor fast vierzig Jah¬
ren bei einer Schlacht durch sein Beispiel eine pa¬
der
nikartige Flucht des ganzen Regimentes
blauen Dragoner — verschuldet hat; dann hat er
geheiratet, seine arme Frau zu Tode sekkiert, und
tut nun ein Gleiches mit seiner Tochter, welche un¬
ter seiner geistigen Mißhandlung zur verbitterten
alten Jungfer wird. Bei einem eben ausbrechenden
Kriege nun lebt das Gerücht von dieser (namentlich
in der österreichischen Armee ganz undenkbaren)
Schande der blauen Dragoner wieder auf, wobei
freilich niemand den Urheber derselben kennt. Aber
es geben sich die derzeitigen Offiziere dieses Regi¬
mentes das Wort, daß sie — zur Sühne für jene
Tat der Feigheit — diesmal ausnahmslos den
Tod suchen wollen. Keiner soll aus dem Feldzuge
zurückkehren. Und auch der Soldaten bemächtigt
sich die gleiche exaltierte Stimmung. — Um die ver¬
blühte Tochter des boshaften Alten bewirbt sich ein
braver Forstadjunkt; ein edler Arzt bemüht sich,
dem Kranken Vernunft beizubringen und der Pfle¬
gerin Linderung zu verschaffen; er stellt ihr aber
auch eine solche Menge Schlafmittel für der Vater
zur Verfügung, daß es für tausend Nächte genug
wäre. Damit vergiftet sie den Quäler, um Zeit zum
Abschied zu finden von einem Offizier, der aber
gar nicht an sie denkt. Er hat nur einmal eine Ball¬
nacht mit ihr verbracht. In seiner Wohnung am
letzten Abend vor dem Abmarsch eingeschlichen, wird
sie hier nur die unfreiwillige Zeugin seiner letz¬
ten Zusammenkunft mit der Frau des Obersten,
die, liebestoll, denselben zur Desertion verleiten
will. Der Oberst — bisher ein Musterbild von
Edelmut und Nachsicht für die beiden — erschießt
nun das treulose Weib und überläßt es großmütig
dem Offizier, sich selbst zu erschießen. Dabei hetzt
sich noch ein krankhaft leichtfertiges, der Schwind¬
sucht verfallenes Mädchen zu Tode, und der ein¬
zige matte Lichtstrahl in diese Schand= und Schauer¬
mär ist es, daß die Offizierstochter, deren Verbre¬
chen der Arzt vertuscht hat, auf dessen Rat weltliche
Krankenpflegerin wird, um, nur dem „Ruf des
Lebens“ folgend, nicht auch noch die Todesfälle in
dem Stücke zu vermehren; einen tieferen Zweck
(etwa die Bedeutung einer Reue oder freiwilligen
Besserung) hat jo auch dieses hier zweifelhafte
Opfer nicht. Gelegentlich sagen einige dieser an
selbstverschuldetem Unglück leidenden Menschen Lä¬
sterungen gegen „den alten Herrn oben“, der all
dies Gemisch von Ungerechtigkeit und Wahnwitz
duldet. Aber auch nicht einer all dieser Menschen
beiderlei Geschlechtes hat einen Funken von Selbst¬
erkenntnis oder einen über den engen Kreis des
Erdenlebens hinausgehenden höheren Gedanken.
Und solches Zeug führt man den Menschey vor —
fingendis moribus.