II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 461

19. Der Ruf des Lebens
gebe onne Gewahr.)
Tanpfurtet 4 ertan.
Ausschnitt aus : 1012
vom:
= Münchner Theater.] Aus München wird uns vom
7. d. M. geschrieben: Als halbwüchsige Buben hatten wir wohl
dann und wann Gelegenheit, durch die Theaterspalten zu
schauen oder zu schlüpfen. Da saßen die Großen und hörten
andächtig zu. Elegante Herren und schöne Dumen redeten auf
der Bühne allerhand wohlgesetzte Worte, weinten und um¬
armten sich im Wechsel und taten furchtbar wichtig. Sie hat¬
ten alle Sonntagskleider an, und das gefiel uns ausnehmend.
Aber was sie sprachen und taten, das langweilte uns gewal¬
tag, denn es ging uns gar nichts an. Es war das Geheimnis
der Großen, aber dies Geheimnis, das hinter verschlossenen
Türen so schön verboten aussah, lockte ns plötzlich gar nicht
mehr, als wir es kannten. Es war gau kein „richtiges" Ge¬
heimnis. Mit ähnlicher Enttäuschung säh ich gestern die
Schleier fallen, die Arthur Schnitzler um den Kern seines
Schauspiels „Der Ruf des Lebens“ gewöben hat. Wenn
ein unmenschlich tyrannischer Vater sein Kind an sein Siechen¬
lager kettet un.d das blühende Mädchen, vom Rufe des Lebens
hingerissen, dem Peiniger mit ein paar Tropfen zum ewigen
Schlafe verhilft, so ist des gewiß ein Kern, aus dem ein Drama
wachsen könnte. Denn hier ist, es sei geschehen wie und warum
es wolle, ein geheiligtes Fundament der Menschheit verletzt,
nicht minder heiligen Geboten der Natur zuliebe, und man
erwartet vom Dichter die Erfüllung des Schicksals derjenigen,
die sich wider Gott und die Natur empört hat. Schnitzle.
aber sagt: dies Schicksal ist ein vielseitiges Problem.
Ein solches Problem steht nicht allein in der Welt, es ist
bedingt durch andere Lebensprobleme. Und so umstellt er die
Tragödie mit einer nachdenklichen Problematik, in die ge¬
legentlich eine Eifersuchtsszene mit Donner und Blitz hinei¬
tracht, die aber am Ende, nachdem alle Reflexe erschöpft sind,
dilatorisch im Sande verläuft. So kommt es, daß nicht der¬
handelnde und leidende Mensch der Vertrauensmann des
Dichters ist, sondern der verstehende, in diesem Falle der
Arzt. Wir sollen versteben, „wie das ward“, doch über dem
kühlen und müden Verständnis haben wir die Kraft des Mit¬
gefühls eingebüßt, und fragen uns und den Dichter schlie߬
lich dasselbe, was wir damals als Kinder fragten: was geht
uns das alles an? Es kommt hinzu, da Schnitzler die Zeit
und die sentimental gedehnte Sprache der Biedermeier für
dieses Schauspiel gewählt hat, wodurch alles Geschehen noch
entfernter wirkt, ohne doch fürs innere Auge zur notwendi¬
gen Einheit zu verschmelzen. Die Aufführung in den Kam¬
merspielen unter Erich Ziegels Regie bot stim¬
mungsvolle Einzelheiten, doch fehlte es dem überwiegend
neuen Personal noch an Fühlung miteinanden Pree Hor¬
wi“ war im Zusammenspiel mit Herrn Manning (Vater
und Tochter) ein paar Mai recht überzeugend, ihr Partner trug
leider das Pathologische zu stark auf, die Herren Marx und
Oswald boten Gutes und ließen Besseres hoffen. Das
Puhlikum feierte den anwesenden Dichter, einiges Wider¬
spruches ungeachtet, am Schlusse ziemlich lebhaft.
Im kgl. Residenztheater war Tags vorher „Der
lebende Leichnam“ von Tolstoi zim ersten Male ge¬
geben worden, mit einer Wirkung, die von Bild zu Bild sich
vertiefte. Die Aufführung ist eine der besten, die ich im Hof¬
theater gesehen habe; man fühlt sich versucht zu sagen: sie ist
vollkommen, wenn man dieses gewichtige Wort überhaupt auf
Bühnenleistungen anwenden dürfte. Aber wer unter uns
ewigen berufsmäßigen Nörglern wäre nicht von Herzen froh,
einmal die Waffen zu strecken und rundweg zu bekennen: ja,
das ist gültige Theaterkunst, gerundet und gefeilt bis ins
kleinste, ist ernste künstlerische Gemeinschaftsarbeit, ohne fest¬
liches Trara und Reformgeschrei, und sie soll wahrlich nicht
geringer gelten, weil die Leistung schlicht und recht aus dem
Alltag herauswuchs. Herrn Steinrücks Regie war so,
wie gute Regie sein soll: unsichtbar und doch allenthalben da.
Die Darstellung wirkte ganz einheitlich, so daß man sich scheut,
eine so überraschend vornehme Leistung wie die des Herrn
Lützenkirchen besonders herauszuheben. — Ueber einem
solchen Abend vergißt sich der abgestandene Militärschwank
„Die Generalsecke“ von R. Skowronnek, mit dem
das Schauspielhaus aufwartete, doppelt rasch und
gründlich. — E. K.
box 24/4
Lusschnitt aus eues Münchener Tagblatt
om:
7513.
München
1
D
„Gcheten Bieigenten ehrten.
Kammerspiele. Erstaufführung: „Der Ruf
Des Lebens“ von Arthur Schnitzler. Mit
diesem dreiaktigen Schauspiel= de Kam¬
merspiele ihre neue Suison unter ih tüchtigen
Direl or und erprohien Regisseur Erich Ziegel,
der, wie auch diese Vorstellung wieder bewies, es
vorzüglich versteht, den rechten Mann an den rech¬
ten Platz zu Fellen. Das Schnitzkersche Stück hat,
ohne durch besondere Qualität oder höhere ethische
Werte aufzufallen, bei gleichmäßiger Entwicklung
eine bühnensichere Wirkung. Als einen Nachteil mag
man die etwas allzubreit angelegten Dialoge an¬
sprechen, die aber nicht langweilen.
Die Handlung verzweigt sich etwas. Da ist
zunächst der alte Moser mit seiner Tochter Marie.
Er hatte in seiner Jugand als Rittmeister an der
Spitze seiner Schwadron den Feind erwartet und
war dann vor dem nahenden Tode geflohen. Der
Ruf des Lebens hatte ihn gelockt. Nun sitzt der
alte Soldat als kranker Mann zu Hause, ver¬
bittert seiner 26jährigen Tochter Marie durch grau¬
samen Egoismus das Leben und hält sie als Pfle¬
gerin an sich gefesselt Tag und Nacht. Doch auch
das Mädchen hat ein Herz, auch nach ihr ruft das
Leben, die Liebe — und als sie erfährt, daß der
heimlich Geliebte in den sicheren Tod gehen muß,
da pacht sie's mit unwiderstehlicher Macht. Sie
gibt dem alten Vater ein Schlafmittel, das „für
hundert Nächte genügte“ und enteilt dem Hause.
Ihr Max, der Leutnant,
Indes — zu spät -
hat feine Hand inzwischen nach der jungen Frau des
Oberst ausgestreckt. Eine Kugel ihres Mannes be¬
endetdas Treiben.
Mariens Base, Katharina, die einst einem Forst¬
abjunkten verlobt war, hat sich einem anderen zu¬
gewendet, bis eine von ihr ungeahnte Krankheit,
die Schwindsucht, dem allzu rasch gelebten Leben
ein jähes Ende bereitet. So läßt der Dichter noch
mancherlei Gestalten an uns vorüberziehen und
zeigt, wie sie alle nach dem Lebensgenuß jagen und
zum großen Teil daran zu Grunde gehen. Es ist
wohl viel allzu menschliches in dem Stück; aber eben
darum sagt uns, die wir vom Theater Erhebendes
verlangen, das Werk, so unendlich wenig. Die
Aufführung an sich war ein nennenswerter Erfolg
für Dichter und Darsteller. Die Rollen lagen durch¬
wegs in guten Händen. So boten die Herren Man¬
ning (Moser), Marx (Schindler), Oswald
Max) und Ziegel Musterleistungen: Herr
Stahl=Nachbaur erschien uns als Forstadjunkt
zu salbungsvoll. Anerkennend sei noch der Damen¬
dorwitz, Parsch-Grevenberg und Spiek
nann gedacht.