II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 482

Brünn, Samstag
Seise 10
die hundertfache Dosis eines Schlafpulvers ins Glas Wasser,
damit sie über die Leiche des Vaters zum Geliebten eilen
könnte... Auch der bekannte idyllische Ausklang des Schau¬
spiels, dieser dritte Akt, der von allem lärmenden Geschehen
weit entfernt ist und in einer friedlichen Wiesen= und
Waldlandschaft spielt, ist nichts weniger als kriegerisch.
Schließt er doch mit der Frage, ob der Ruf des Lebens
nicht ebenso stark oder stärker aus einem einsamen Wald¬
spaziergang, aus den Spielen der Kinder oder aus dem
Dufte der Blumen dringe als aus Krieg, Mord und Lei¬
denschaft. .. Die neue Einstudierung, die das Volkstheater
dem Schauspiel beschert hatte, war wohlvorbereitet und fand
auch den verdienten Beifall des (wie bei Schnitzler selbst¬
verständlich) vollbesetzten Hauses. Freilich hat das Volks¬
theater seinerzeit noch mit den Damen Hannemann,
Müller und Marberg eine so unvergleichlich gute
Aufführung des Stückes geboten, daß die gegenwärtige,
gewiß auch tüchtige Vorstellung mit Erika v. Wagner,
der neuen Kraft Frl. Steinsieck und Frl. Bukovics
die Schatten der Vergangenheit nicht ganz zu bannen
vermochte.
Völlig fern von Krieg und Kriegslärm stand die vor¬
treffliche neue Einstudierung von Gerhart Hauptmanns
„Einsame Menschen“, die das Deutsche Volkstheater
folgen ließ. Hier wurde endlich einmal das getan, was
heute alle Theater tun sollten: es wurde das trotz kleiner
Jugendmängel bedeutsame Werk eines richtigen Dichters
vorgeführt und es wurde dabei auf jeden erkünstelten Zu¬
ssammenhang mit Krieg und Kriegsgeschrei verzichtet. Die
Ergriffenheit und Erschütterung, die man beim Schicksal
dieser einander insgesamt liebenden, einander aber doch
nichts als Qual und Kummer bereitenden Menschen emp¬
findet, das Problem und der edle menschliche Gedanken¬
und Gefühlsinhalt des Schauspiels entrückten die Zuschauer
für einige Stunden den Sorgen, Angsten und Aufregungen
der Kriegstage und erhoben sie zu feierlicher Andacht. Es
gibt wenige Rollen, in denen die ungewöhnliche Begabung
des Herrn Onno so mächtig hervorbricht, wie in der
Gestalt des halben, allzu halben Privatgelehrten Johannes
Vockerat, des Mannes, der zwischen der stillen, kinder¬
gesegneten instinkttiefen Liebe seiner Frau und der von
Geistgemeinschaft und Kameradschaft beglückten Neigung
zur Studentin Anna Mahr den selbstmörderischen Weg in
den Müggelsee wandelt. Auch die anderen Darsteller waren
ihren Aufgaben voll gewachsen, Frl. Steinsieck als
schlichte, demütige Gattin, eine Debütantin, Fräulein
Schilling, als energische und dabei doch herzensgute
Studentin, Herr Edthofer als verbummelter und gleich¬
wohl sympathischer Maler Braun und endlich Herr
Schreiber und Frau Schweighofer als die streng
religiösen, mit ihrer konservativen Frömmigkeit den frei¬
geistigen Sohn marternden Eltern Vockerat. Die weihevolle
Stimmung des Publikums ließ vergessen, daß der Besuch
szahlreicher hätte sein können.
Wo sich im Theater eine Beziehung zu Krieg und
Heldentum ungerufen einstellt und wo heroische Gestalten
der Vorzeit ungesucht zum Befeuern der Gegenwart be¬
schworen werden können, da ist übrigens nichts dagegen
einzuwenden. Eine solche Beschwörung ertönt heute, soweit
sich Deutschlands Grenzen erstrecken, in allen deutschen
Schauspielhäusern vor jubelnden Zuhörern: das Heldenlied
von Kleistens „Prinzen von Homburg“. Im Schau¬
spielhaus von Frankfurt am Main sah ich das unvver¬
gängliche Gleichnis schon im August in einer freilich recht
mittelmäßigen Darstellung, die es mich erst begreifen lehrte,
warum unser Burgtheater=Gerasch bei Kölner oder
Düsseldorfer Festspielen so sehr gefeiert wird, während
wir ihn noch immer nicht als Nachfolger Kainzens!
ertragen können. Und wie blaß nimmt sich jeder reichs¬
deutsche Kurfürst neben Herrn Devrient und jede Na¬
#talie der ganzen Welt neben Frau Medelsky aus! Die
Burgtheateraufführung des „Prinzen von Homburg“ durfte
man vor einigen Tagen als erstes Lebenszeichen der Hof¬
bühne — im Theater an der Wien — wieder einmal sehen.
Leider fehlte eine überragende, in den Vorankündigungen
##mnamhane Leistung im Rahmen der Vorstellung der
S
Kaaen
Wesen, unserer Lands
Dingelstedt der Mak
Die Wiener Cheater und der Krieg.
ganze deutsche Volk
Von Dr. Max Pirker.
uund die fremden Sch
Als zu Herbstbeginn schüchtern im Dröhnen des herbeigerafft, überprü
Weltkrieges die Frage aufflatterte: Sollen wir Theater neue wienerische The
spielen? traten einsichtige Publizisten mit gewichtigen #auch der österreichisch
Gründen und mit einem resoluten Ja auf den Plan. ##ünkt zu geben. Da#
Man warnte vor der lähmenden Massenpsychose, in sigeschehen, daß man
der alles geistige und künstlerische Leben stockt, man das Langersche „Zwei
Perinnerte sich an das im üppigen Alltag des Friedens
oder durch schreibsert
halbvergessene Dichterwort von der Schaubühne als
heure Ringen der G
einer moralischen Anstalt, man sprach von ihrer er¬
„verarbeiten“ läßt, d
ziehlichen, geist= und herzerhebenden Kraft, von hundert des Tages leben. Daz
anderen ideellen und, was nicht weniger ins Gewicht sheilig, zu gewaltig:
nur als ausdringliche
fällt, wirtschaftlichen Gründen. Denn mit dem geistigen
als Sünde nicht nu
Haushalt der Nation, zu dessen Stützen das Thea##e
wider den Geist die
gehört, hängt der schon in Friedenszeit oft genug von
Schwankungen bedrohte materielle Haushalt des Schau= ware im gefälligen
spielers eng zusammen und so wird, was vor wenigen Musik auf, wie etwa
Monaten noch eine rein künstlerische Frage war: der
gab ich für Eisen“.
Theaterbetrieb, eine der vielen sozialen Pflichten und
und erhofft für unse
Forderungen, die die große Zeit an den nicht unmittel¬
armut dahinsiechende
wohl die ungeheuren
bar Beteiligten stellt. Wie haben sich nun die Erwar¬
tungen, Hoffnungen, im Theater Erhebung, Trost und
dieses Krieges keine
Zuversicht zu finden, im ersten Theatermonat erfüllt, wie die kriegerischen
was haben wir für die nächste Zukunft zu erwarten? svolution für Goethes
Die Wiener Theater haben eine stolze Tradition serhabenen Momenteg
zu verwalten: daß sie dieser großen Vergangenheit nicht lder in Bewegung ges
immer gerecht wurden, ward in den letzten Jahren lädeal, wie Hindenburg
oft genug festgestellt. Es mangelte nicht am Glanz simmer lebendig, ist
der Namen, die die „Burg“ einst zur ersten Bühne fneunzehnten Jahrhun
Deutschlands machten, nicht am schauspielerischen sganz natürlich, daß i
Können, aber indem sich Wien wie jede andere Groß= ides Burgtheaters
stadt in den internationalen Großbetrieb einordnete, Radetzky=Prolog den h
ging viel Eigengut verloren, vor allem der unserem Waube= und Dingelst
14-
*

600