14 FEB.8900
1 Theater und Musik
(Siehe auch erste Beilage.)
Deutsches Theater. Zum 1. Male: „Der einsame
Weg“, Schauspiel in 5 Akten von Arthur Schnitzler.
Mir ist, als hätte ich nie so stark den Dichter als Lebens¬
deuter in Schnitzler verspürt, als den Deuter unseres eigensten
Lebens und Wesens. Was, laut und leise, aus seinem neuen
Schauspiel „Der einsame Weg“ hervortönt, es ist die Sprache
von uns allen und unserem Gewissen, mit dem wir auf langer
Wanderung einig geworden sind, ohne ihm sein Uebergewicht neh¬
men zu können. Wir alle
Menschen im „Einsamen Weg“ kehren Schnitzlers
sind Einsamkeitsmenschen.
Wie wäre es sonst möglich, daß wir Dinge in uns verschlössen und
Geheimnisse mit uns trügen, während uns unsere Nächsten und
Liebsten zu kennen meinen. „Und wenn uns ein Zug von
Bacchanten begleitet — den Weg hinab gehen wir alle allein ...
wir, die selbst niemandem gehört haben.“ Und von einem Zwei¬
ten sprechen sie: von der Sehnsucht, die uns nicht läßt, die wahr
ist oder falsch ist und doch die Sehnsucht bleibt, die Sehnsucht in
die weite Welt, die rätselhaften Fernen. Darin liegt ein Heimat¬
loses, und wer die Heimat verlor — und ginge er nicht einen
Schritt weit von der väterlichen Scholle —
der geht einen ein¬
samen Weg. Und aus diesem wiederum resultiert ein drittes:
Das Gefühl der Zugehörigkeit, für uns Zufallsgeschöpfe. Nicht
wer uns in die Welt gesetzt — wer uns zum Menschen erzogen
und uns das Leben erschlossen, ist unser Vater
Gabriele, die Gattin des Wiener Akademiedirektors Weg¬
rath, kommt zum Sterben. Mit ihr erlischt das Licht, das den
Familienkreis erhellt hat, und die Wege der einzelnen gehen weit
auseinander, ins Leben, in den Tod, immer aber in die Einsam¬
keit. Und Frau Gabriele selbst? Sie ist wohl den einsamsten
Weg gegangen, aus einer Enttäuschung heraus, der sie das Kind¬
dankt, von dem ihr Gatte glaubt, es sei sein ältestes. Doppelt
einsam, weil sie dem, der ihr Gatte ward, nicht die Illusionen
Buße war ihr Schweigen. Und die Buße des Jugendgeliebten,
der einst, in letzter Stunde, geflohen war, weil ihn die Sehnsucht
nach den rätselhaften Fernen, der Freiheit und Unge¬
bundenheit unwiderstehlich lockte, wird das einsame
Alter und
das ehrliche
Beharren des Sohnes
bei dem Manne, der ein Menschenalter hindurch die
Pflichten des Vaters erfüllte; bei dem Manne, der durch die
heimatlose Liebe eines Dritten seine Tochter verliert, die auch
ihren Weg gegangen ist, auf dem es keinen Rater gibt als die
Stimme, die in uns ist, wenn wir am einsamsten sind. Der ein¬
same Weg — der Weg der Liebe. Handelnd oder duldend. Das
ist wie eine schmerzliche Ironie. Nicht der Stimme des ererbten
Blutes folgen wir, wir folgen der Stimme unseres individuelten
Blutes. Und wissen nicht, was wir tun .. So ist das Leben. —
Kein Drama, was uns Schnitzler bietet. Nichts davon.
Eine Novelle. Eine Elegie. Und dennoch übt sie von der
Bühne herab einen so eigentümlichen Zauber aus, weil die Wahr¬
heit in ihr zu einem plastischen Gebilde wird und das Antlitz von
Menschen trägt. Nicht die Wahrheit überhaupt. Wer wollte die
ergrunden? Aber eine Wahrheit; die nicht minder groß ist,
weil sie nur einen Teil darstellt. An solch eine stille und tiefe
Dichterschöpsung soll man nicht mit dem kühlen Blick des For¬
schers, an sie soll man mit der lauschenden Seele des Mit= und
Nachempfindenden herantreten. Ob ein Strich zu viel, ob einer zu
wenig=geschehen ist, ob eine Parallele nicht die Konsequenz des¬
Dramgs rein unterstützt, was kümmert es hier viel. Wie der Traum
eines Herbstabends ist es, jener klaren und darum um so stim¬
mungsschwereren Abende, an denen alle Horizonte sich zu weiten
scheinen, die inneren und die äußeren, und wir empfinden ein
Erschauern vor der enteilenden Gegenwart. —
Die herbe Luft war nichts für die „kompakte Majorität“.
Unberechenbar wie das Premierenpublitum ist, wollte es
keinen Dichter, es wollte heute einen Theatraliker. Die feinen
seelischen Fäden, die wie ein Herbstgespinnst hin und her
webten, sah es nicht, oder wollte sie nicht sehen und
noch weniger verstehen. In den nicht allzu starken Applaus
klang übellauniges, harfes Zischen. Eine Anzahl Damen des
ersten Ranges platzten mehrfach in amüsiertestes Gelächter aus.
Auch Böotien hatte seinen Damenflor
Die Darstellung hätte ein etwas stärkeres Rückgrat ber¬
tragen. Der Ton war zu weichlich genommen. Leute, die Wege
gehen wie die Menschen in diesem Schnitzlerschen Werk, pflegen
nicht zu weinen, sondern die Zähne aufeinander zu beißen, wenn
sich die Begleichung einer Rechnung herausstellt. Für ein be¬
sonderes Leben hat man besonders zu zahlen. Bassermann
war am interessantesten. Seine feine Blasiertheit, unter der die
Vornehmheit des Kavaliers immer wieder aufzuckte, war eine
tiefe künstlerische Leistung. Rudolf Rittner war der
ein Drei¬
lebensechteste. Maske, Spiel, Empfindung
klang in eins. Irene Triesch bot eine fesselnde Studie zum
nrewigen Kapitel des Frauenrätsels, das keines ist, wenn wir
unsere Sinne befragen. Sympathisch wirkte Hedwig Pauly,
schlicht Hans Godeck, schlichter und ergreifender Oskar
Sauer. Eine Ueberraschung aber schuf Else Lehmann,
eine Ueberraschung erfreulichster Art. Sie spielte eine einstige
Schauspielerin, eine Frau mit Naturinstinkten, die sich nicht zer¬
mürben lassen, und spielte sie mit einem Charme und einer
Frische, die der Künstlerin ein neues, großes Feld zu eigen
gaben. Arthur Schnitzler dankte nach den letzten vier
Akten denen, die mitgegangen waren.
Rudolf Herzog.
Sunden mit direktem Nachrichtendienst durch
eigene Korrespondenten.
Telephon: 1l, 3051.
Berlin N. 24.
—
Ausschnitt aus
Vossische Zeitung. Bertin
14 FEB. 1903
Theater und Musik.
Arthur Schnitzlers neues Schauspiel „Der einsame Wege
fand gestern abend im Deutschen Theater eine Aufnahme,
nach den meisten Akten einem Erfolge glich und nur nach der
vierten Akte einem Mißerfolge wegen einer Dunkelheit des Textes
der die Regie nicht aufzuhelfen im stande war. In diesem
Stücke, in dem auch der Dichter einsame Wege wandelt, kreuzen
sich mehrere Schicksale, und das Publikum hatte einige Mühe, sich
die etwas verschlungenen Fäden zu entwirren, besonders da keine
Hauptfigur sich in den Vordergrund stellt, sondern die Personen
löfen sich ab mit gleichem Werte und gleichem Gewicht mehr nach
der Technik des Romans als nach der des Dramas. Es ist in der Haupt¬
sache die tragische Geschichte von zwei alternden Männern, die einen
einsamen Weg bis zum Ende gehen müssen, weil sie zerstört und
nicht gebaut haben. Der eine sucht seinen Sohn, der rechtlich und
offiziell einem verheirateten Freunde gehört, um ihn ganz zu ver¬
lieren, nachdem er seine Vaterschaft bekanut hat. Der andere
nimmt die rückhaltlose Leidenschaft der Tochter dieses Freundes
an, und da diese ihrem Leben ein Ende macht, bleibt ihm nichts
anderes übrig, als sich auch zu beseitigen. Der eine ist warm, ein
Egoist aus Temperament, der andere kalt, ein Egoist aus Be¬
rechnung, beide werden bankerott und sie schleichen als Bettler
aus dem Hause des Mannes, der von seiner Frau belogen
worden ist wie von den beiden Freunden, dem sich die Tochter
nie aufgeschlossen hat, der aber, weil er sich zu opfern verstand,
wenigstens einen Menschen gewinnt, nämlich den Sohn, auf
den ihm die Natur kein Anrecht gegeben hat. So schließt das Stück,
in dem der Egoismus verschiedenster Arten mit sehr viel Geist
begründet, in dem die Grausamkeit des Lebens mit kühler Ge¬
lassenheit hingenommen wird, in der auf feine Weise fühlbar
gemachten Pointe, daß nur die Selbstlosigkeit Frucht bringt
und nur die Güte sich behauptet, die allerdings mit etwas
Blindheit geschützt sein muß. Für die Aufführung hatte das
Deutsche Theater seine ersten Darsteller aufgeboten. Herr
Rittner gab den natürlichen Vater, der seinen Sohn sucht, um
ihn zu verlieren. Im Anfang wenigstens brachte er das starke
Temperament eines alten Lebensstürmers sehr gut heraus, aber
auf die Dauer gelung es ihm nicht immer, die hohen jugend¬
lichen Töne zu vermeiden, die seinem grauen Barte wider¬
sprachen, und die Rolle des Mannes der gerade dem
Sohne sein Verhältnis zur Mutter sachlichst auseinander¬
setzen muß, bietet wohl einige menschliche Widerwärtigkeiten,
die durch keine Darstellung annehmbar zu machen sind. Eine bessere
Aufgabe war Herrn Bassermann mit der Rolle des kühlen Lebe¬
mannes zugefallen, der im Stück die geistreichsten Raisonzements hat,
und der Künstler gab nicht nur einen Kavalier von tadellosen Manieren
und bei aller Trockenheit verführerischer Distinktion, sondern er schuf
auch einen Menschen, der nach der verschuldeten Katastrophe
aus der Blasiertheit ganz schlicht und ergreifend herauskam.
Nicht ganz verständlich wurde das verführte Mädchen, das sich
in den Teich stürzte, wie überhaupt die Absicht des Selbst¬
mordes nicht gleich verstanden wurde, eine Schuld, die gewiß
nicht Fräulein Irene Triesch, sondern Herrn Schnitzler selbst
beizumessen ist. Sehr gut hielt sich als ihr Bruder Herr
Stieler mit der richtigen Mischung von jugendlicher Zart¬
heit und Männlichkeit. Sein offizieller Vater geriet bei Herrn
Sauer bei aller Tüchtigkeit etwas zu nüchtern und anspruchslos.
In der episodischen Rolle einer früheren Schauspielerin, die sich
ins Landleben zurückgezogen hat, ließ Frau Else Leh¬
mann ihre prachtvolle Laune springen, wie sie auch mit
den melancholischen Tönen dieser Figur, mit der Klage
um versäumte Mutterschaft, aufs innigste ergriff. In Bezug auf
Dekoration hat sich das Deutsche Theater auch durch die neue
drohende Konkurrenz, die uns jetzt verwöhnt, nicht in seiner Tra¬
dition höchst bourgeoiser Nüchternheit und Geschmacklosigkeit er¬
schüttern lassen. A. E.
—
T
8140
1 Theater und Musik
(Siehe auch erste Beilage.)
Deutsches Theater. Zum 1. Male: „Der einsame
Weg“, Schauspiel in 5 Akten von Arthur Schnitzler.
Mir ist, als hätte ich nie so stark den Dichter als Lebens¬
deuter in Schnitzler verspürt, als den Deuter unseres eigensten
Lebens und Wesens. Was, laut und leise, aus seinem neuen
Schauspiel „Der einsame Weg“ hervortönt, es ist die Sprache
von uns allen und unserem Gewissen, mit dem wir auf langer
Wanderung einig geworden sind, ohne ihm sein Uebergewicht neh¬
men zu können. Wir alle
Menschen im „Einsamen Weg“ kehren Schnitzlers
sind Einsamkeitsmenschen.
Wie wäre es sonst möglich, daß wir Dinge in uns verschlössen und
Geheimnisse mit uns trügen, während uns unsere Nächsten und
Liebsten zu kennen meinen. „Und wenn uns ein Zug von
Bacchanten begleitet — den Weg hinab gehen wir alle allein ...
wir, die selbst niemandem gehört haben.“ Und von einem Zwei¬
ten sprechen sie: von der Sehnsucht, die uns nicht läßt, die wahr
ist oder falsch ist und doch die Sehnsucht bleibt, die Sehnsucht in
die weite Welt, die rätselhaften Fernen. Darin liegt ein Heimat¬
loses, und wer die Heimat verlor — und ginge er nicht einen
Schritt weit von der väterlichen Scholle —
der geht einen ein¬
samen Weg. Und aus diesem wiederum resultiert ein drittes:
Das Gefühl der Zugehörigkeit, für uns Zufallsgeschöpfe. Nicht
wer uns in die Welt gesetzt — wer uns zum Menschen erzogen
und uns das Leben erschlossen, ist unser Vater
Gabriele, die Gattin des Wiener Akademiedirektors Weg¬
rath, kommt zum Sterben. Mit ihr erlischt das Licht, das den
Familienkreis erhellt hat, und die Wege der einzelnen gehen weit
auseinander, ins Leben, in den Tod, immer aber in die Einsam¬
keit. Und Frau Gabriele selbst? Sie ist wohl den einsamsten
Weg gegangen, aus einer Enttäuschung heraus, der sie das Kind¬
dankt, von dem ihr Gatte glaubt, es sei sein ältestes. Doppelt
einsam, weil sie dem, der ihr Gatte ward, nicht die Illusionen
Buße war ihr Schweigen. Und die Buße des Jugendgeliebten,
der einst, in letzter Stunde, geflohen war, weil ihn die Sehnsucht
nach den rätselhaften Fernen, der Freiheit und Unge¬
bundenheit unwiderstehlich lockte, wird das einsame
Alter und
das ehrliche
Beharren des Sohnes
bei dem Manne, der ein Menschenalter hindurch die
Pflichten des Vaters erfüllte; bei dem Manne, der durch die
heimatlose Liebe eines Dritten seine Tochter verliert, die auch
ihren Weg gegangen ist, auf dem es keinen Rater gibt als die
Stimme, die in uns ist, wenn wir am einsamsten sind. Der ein¬
same Weg — der Weg der Liebe. Handelnd oder duldend. Das
ist wie eine schmerzliche Ironie. Nicht der Stimme des ererbten
Blutes folgen wir, wir folgen der Stimme unseres individuelten
Blutes. Und wissen nicht, was wir tun .. So ist das Leben. —
Kein Drama, was uns Schnitzler bietet. Nichts davon.
Eine Novelle. Eine Elegie. Und dennoch übt sie von der
Bühne herab einen so eigentümlichen Zauber aus, weil die Wahr¬
heit in ihr zu einem plastischen Gebilde wird und das Antlitz von
Menschen trägt. Nicht die Wahrheit überhaupt. Wer wollte die
ergrunden? Aber eine Wahrheit; die nicht minder groß ist,
weil sie nur einen Teil darstellt. An solch eine stille und tiefe
Dichterschöpsung soll man nicht mit dem kühlen Blick des For¬
schers, an sie soll man mit der lauschenden Seele des Mit= und
Nachempfindenden herantreten. Ob ein Strich zu viel, ob einer zu
wenig=geschehen ist, ob eine Parallele nicht die Konsequenz des¬
Dramgs rein unterstützt, was kümmert es hier viel. Wie der Traum
eines Herbstabends ist es, jener klaren und darum um so stim¬
mungsschwereren Abende, an denen alle Horizonte sich zu weiten
scheinen, die inneren und die äußeren, und wir empfinden ein
Erschauern vor der enteilenden Gegenwart. —
Die herbe Luft war nichts für die „kompakte Majorität“.
Unberechenbar wie das Premierenpublitum ist, wollte es
keinen Dichter, es wollte heute einen Theatraliker. Die feinen
seelischen Fäden, die wie ein Herbstgespinnst hin und her
webten, sah es nicht, oder wollte sie nicht sehen und
noch weniger verstehen. In den nicht allzu starken Applaus
klang übellauniges, harfes Zischen. Eine Anzahl Damen des
ersten Ranges platzten mehrfach in amüsiertestes Gelächter aus.
Auch Böotien hatte seinen Damenflor
Die Darstellung hätte ein etwas stärkeres Rückgrat ber¬
tragen. Der Ton war zu weichlich genommen. Leute, die Wege
gehen wie die Menschen in diesem Schnitzlerschen Werk, pflegen
nicht zu weinen, sondern die Zähne aufeinander zu beißen, wenn
sich die Begleichung einer Rechnung herausstellt. Für ein be¬
sonderes Leben hat man besonders zu zahlen. Bassermann
war am interessantesten. Seine feine Blasiertheit, unter der die
Vornehmheit des Kavaliers immer wieder aufzuckte, war eine
tiefe künstlerische Leistung. Rudolf Rittner war der
ein Drei¬
lebensechteste. Maske, Spiel, Empfindung
klang in eins. Irene Triesch bot eine fesselnde Studie zum
nrewigen Kapitel des Frauenrätsels, das keines ist, wenn wir
unsere Sinne befragen. Sympathisch wirkte Hedwig Pauly,
schlicht Hans Godeck, schlichter und ergreifender Oskar
Sauer. Eine Ueberraschung aber schuf Else Lehmann,
eine Ueberraschung erfreulichster Art. Sie spielte eine einstige
Schauspielerin, eine Frau mit Naturinstinkten, die sich nicht zer¬
mürben lassen, und spielte sie mit einem Charme und einer
Frische, die der Künstlerin ein neues, großes Feld zu eigen
gaben. Arthur Schnitzler dankte nach den letzten vier
Akten denen, die mitgegangen waren.
Rudolf Herzog.
Sunden mit direktem Nachrichtendienst durch
eigene Korrespondenten.
Telephon: 1l, 3051.
Berlin N. 24.
—
Ausschnitt aus
Vossische Zeitung. Bertin
14 FEB. 1903
Theater und Musik.
Arthur Schnitzlers neues Schauspiel „Der einsame Wege
fand gestern abend im Deutschen Theater eine Aufnahme,
nach den meisten Akten einem Erfolge glich und nur nach der
vierten Akte einem Mißerfolge wegen einer Dunkelheit des Textes
der die Regie nicht aufzuhelfen im stande war. In diesem
Stücke, in dem auch der Dichter einsame Wege wandelt, kreuzen
sich mehrere Schicksale, und das Publikum hatte einige Mühe, sich
die etwas verschlungenen Fäden zu entwirren, besonders da keine
Hauptfigur sich in den Vordergrund stellt, sondern die Personen
löfen sich ab mit gleichem Werte und gleichem Gewicht mehr nach
der Technik des Romans als nach der des Dramas. Es ist in der Haupt¬
sache die tragische Geschichte von zwei alternden Männern, die einen
einsamen Weg bis zum Ende gehen müssen, weil sie zerstört und
nicht gebaut haben. Der eine sucht seinen Sohn, der rechtlich und
offiziell einem verheirateten Freunde gehört, um ihn ganz zu ver¬
lieren, nachdem er seine Vaterschaft bekanut hat. Der andere
nimmt die rückhaltlose Leidenschaft der Tochter dieses Freundes
an, und da diese ihrem Leben ein Ende macht, bleibt ihm nichts
anderes übrig, als sich auch zu beseitigen. Der eine ist warm, ein
Egoist aus Temperament, der andere kalt, ein Egoist aus Be¬
rechnung, beide werden bankerott und sie schleichen als Bettler
aus dem Hause des Mannes, der von seiner Frau belogen
worden ist wie von den beiden Freunden, dem sich die Tochter
nie aufgeschlossen hat, der aber, weil er sich zu opfern verstand,
wenigstens einen Menschen gewinnt, nämlich den Sohn, auf
den ihm die Natur kein Anrecht gegeben hat. So schließt das Stück,
in dem der Egoismus verschiedenster Arten mit sehr viel Geist
begründet, in dem die Grausamkeit des Lebens mit kühler Ge¬
lassenheit hingenommen wird, in der auf feine Weise fühlbar
gemachten Pointe, daß nur die Selbstlosigkeit Frucht bringt
und nur die Güte sich behauptet, die allerdings mit etwas
Blindheit geschützt sein muß. Für die Aufführung hatte das
Deutsche Theater seine ersten Darsteller aufgeboten. Herr
Rittner gab den natürlichen Vater, der seinen Sohn sucht, um
ihn zu verlieren. Im Anfang wenigstens brachte er das starke
Temperament eines alten Lebensstürmers sehr gut heraus, aber
auf die Dauer gelung es ihm nicht immer, die hohen jugend¬
lichen Töne zu vermeiden, die seinem grauen Barte wider¬
sprachen, und die Rolle des Mannes der gerade dem
Sohne sein Verhältnis zur Mutter sachlichst auseinander¬
setzen muß, bietet wohl einige menschliche Widerwärtigkeiten,
die durch keine Darstellung annehmbar zu machen sind. Eine bessere
Aufgabe war Herrn Bassermann mit der Rolle des kühlen Lebe¬
mannes zugefallen, der im Stück die geistreichsten Raisonzements hat,
und der Künstler gab nicht nur einen Kavalier von tadellosen Manieren
und bei aller Trockenheit verführerischer Distinktion, sondern er schuf
auch einen Menschen, der nach der verschuldeten Katastrophe
aus der Blasiertheit ganz schlicht und ergreifend herauskam.
Nicht ganz verständlich wurde das verführte Mädchen, das sich
in den Teich stürzte, wie überhaupt die Absicht des Selbst¬
mordes nicht gleich verstanden wurde, eine Schuld, die gewiß
nicht Fräulein Irene Triesch, sondern Herrn Schnitzler selbst
beizumessen ist. Sehr gut hielt sich als ihr Bruder Herr
Stieler mit der richtigen Mischung von jugendlicher Zart¬
heit und Männlichkeit. Sein offizieller Vater geriet bei Herrn
Sauer bei aller Tüchtigkeit etwas zu nüchtern und anspruchslos.
In der episodischen Rolle einer früheren Schauspielerin, die sich
ins Landleben zurückgezogen hat, ließ Frau Else Leh¬
mann ihre prachtvolle Laune springen, wie sie auch mit
den melancholischen Tönen dieser Figur, mit der Klage
um versäumte Mutterschaft, aufs innigste ergriff. In Bezug auf
Dekoration hat sich das Deutsche Theater auch durch die neue
drohende Konkurrenz, die uns jetzt verwöhnt, nicht in seiner Tra¬
dition höchst bourgeoiser Nüchternheit und Geschmacklosigkeit er¬
schüttern lassen. A. E.
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