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18. Der einsane Neg
Bühne und Welt.
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anderer Seite bestritten wurde. Zum Schluß herrschte wohl allgemein der Eindruck, die nicht
alltägliche interessante Schöpfung eines ausgetretene Bahnen und Alltagskonflikte verschmähenden
Poeten kennen gelernt zu haben.—
Zu den interessanten Theaterabenden sind trotz aller Einwendungen auch die Premieren
von Otto Julius Bierbaums „Stella und Antonie“ im Berliner Theater und Bernhard
Shaws Komödie „Der Schlachtenlenker“ und Maeterlincks Legende „Schwester Beatrix“
im Neuen Theater zu rechnen. Bierbaums Schauspiel fesselte in den ersten Akten durch die
originelle Mischung beterogener Elemente und Stile, obgleich als höhere Einheit doch Zeit= und
Milienkolorit, das ausgehende Barockzeitalter, mit ziemlicher Konsequenz und Treue eingehalten
wird. Auch der Charakter der kapriziösen, nach ungewöhnlichen Emotionen verlangenden
Komtesse ist zum mindesten in den Grundzügen sehr fein angelegt, dagegen kommt der Gegensatz
zwischen Antonie und der Sängerin Stella, die, von den gleichen Leidenschaften und Charakter¬
fehlern beherrscht, ihrem geliebten Johann Christian aus Kaprice mit einem buckligen, häßlichen
Souffleur durchgeht, absolut nicht zum Ausdruck, zumal in der von Bierbaum für die Berliner
Aufführung gemodelten Fassung des Schlußaktes, in der jetzt nicht mehr die eifersüchtige Stella
die Komtesse ersticht, sondern Johann Christian aus Verzweiflung, daß Antonie nichts mehr von
ihm wissen will, sich selber den Tod gibt. In der Vereinigung der mancherlei altertümlichen
Elemente und Reminiszenzen an die Tage des Harlekins, des Singspiels der englischen Komö¬
dianten und der blutrünstigen Haupt= und Staatsaktionen, der galanten Schäfereien und des
Lohensteinschen Schwulstes, dem in der Doesie Günthers, Bierbaums Johann Christian, nach
langer Zeit wieder einmal die Stimme der Natur entgegentritt, scheint mir der Wert, richtiger
der Kuriositätswert von Vierbaums Schauspiel zu liegen. — In der Rolle der Antonie bot Ida
Roland eine recht interessante und vielversprechende Leistung. Um so ahnungsloser stand, soweit
es sich nicht um den etwas reichlich ausgedehnten Liedervortrag handelte, ein ad hoc engagiertes
Fräulein Bardi der Rolle der Stella gegenüber. Hans Mischke bot als Johann Christian
wohl seine beste bisherige Leistung.
Die einaktige Komödie vom Schlachtenlenker hat uns die erste Bekanntschaft mit dem in
letzter Zeit viel genannten englischen Dramatiker auf der Bühne vermittelt, nicht eben unglücklich,
j da sie spezisische Seiten von Shaws Individualität und Talent recht charakteristisch zeigt. Diel¬
leicht bezeichnet man das Stück am treffendsten als eine Parodie auf Carlples berühmtes Buch
über „Belden und Heldenverehrung“. Shaw gefällt sich bald freiwillig in der Rolle des Kammer¬
dieners, für den es keinen großen Mann gibt, bald sucht er ernsthaft dem Genie die Züge, die
es zum Genie machen, abzulauschen, bald gefällt er sich in echt englischen Clownspäßen. Seine
Charakteristik des jungen, skrupellosen, ehrgeizigen Uebermenschen und Siegers von Marengo ent¬
hält köstliche Finessen. Nicht minder die der unbekannten Schönen aus Paris, die die Josephine
kompromittierenden Briefe an Barras vor den Augen des Ehemanns retten soll. Aber List,
Intrige, Plänkelei und Schlußaktion geraten gar zu breit und schließlich gar zu possenhaft, so
daß unser Interesse an den Bühnenvorgängen erlahmt, obgleich Agnes Sorma die fremde
Dame in jeder Beziehung wirklich charmant und drollig verkörperte und auch Max Reinhardt,
so wenig ihm die Rolle des jungen Napoleon liegt, seine eindringliche Charakterisierungskunst
betätigte. — Unter allzu großer Ausdehnung einzelner Scenen und der Zwitterhaftigkeit der Ge¬
samtstruktur leidet auch Maeterlincks Legende. Der Dichter deutet zwar in einem Vorwort be¬
scheiden an, er habe nur ein Libretto geliefert, aber er hat doch weit mehr geboten, und anderseits
ist die stimmungsvolle und durchweg gut angepaßte Musik Max Marschalks so ausgedehnt, als
handle es sich um ein Musikdrama, und doch wieder keine Opernmusik. Und so ist schließlich so
etwas wie ein Melodrama zu stande gekommen, in dem die Musik das gesprochene Wort und
das gesprochene Wort die Musik abwechselnd störend ablöst. In der Doppelrolle der unzufriedenen
Nonne, die nächtlicherweile mit dem Liebhaber entflieht, und der Gottesmutter, die von ihrem
Diedestal in der Alosterkirche herabsteigt und zwanzig Jahre lang die Rolle der entflohenen
Schwester Zeatrix spielt, bis diese müde und gebrochen von allen Enttäuschungen und Lastern des
Lebens zurückkehrt, um im Schutz der heiligen Mauern ihre renige Seele auszuhauchen, bot
Agnes Sorma die vielleicht bedeutendste ihrer bisherigen Schöpfungen, und niemals schien sie
wir der Duse so gleich zu kommen in der rührenden Jnnigkeit der großen flehenden, erschreckten.
Augen, der lieblichen Demut und der strahlenden Hoheit, in der scharf und sicher auseinander¬
gehaltenen Charakteristik der ins Leben Fliehenden und gebrochen Zurückkehrenden. Die Beredt¬
samkeit ihres stummen Spieles als Maris, die sich in Beatrir verwandelt hat, und von Aebtissin,
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18. Der einsane Neg
Bühne und Welt.
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anderer Seite bestritten wurde. Zum Schluß herrschte wohl allgemein der Eindruck, die nicht
alltägliche interessante Schöpfung eines ausgetretene Bahnen und Alltagskonflikte verschmähenden
Poeten kennen gelernt zu haben.—
Zu den interessanten Theaterabenden sind trotz aller Einwendungen auch die Premieren
von Otto Julius Bierbaums „Stella und Antonie“ im Berliner Theater und Bernhard
Shaws Komödie „Der Schlachtenlenker“ und Maeterlincks Legende „Schwester Beatrix“
im Neuen Theater zu rechnen. Bierbaums Schauspiel fesselte in den ersten Akten durch die
originelle Mischung beterogener Elemente und Stile, obgleich als höhere Einheit doch Zeit= und
Milienkolorit, das ausgehende Barockzeitalter, mit ziemlicher Konsequenz und Treue eingehalten
wird. Auch der Charakter der kapriziösen, nach ungewöhnlichen Emotionen verlangenden
Komtesse ist zum mindesten in den Grundzügen sehr fein angelegt, dagegen kommt der Gegensatz
zwischen Antonie und der Sängerin Stella, die, von den gleichen Leidenschaften und Charakter¬
fehlern beherrscht, ihrem geliebten Johann Christian aus Kaprice mit einem buckligen, häßlichen
Souffleur durchgeht, absolut nicht zum Ausdruck, zumal in der von Bierbaum für die Berliner
Aufführung gemodelten Fassung des Schlußaktes, in der jetzt nicht mehr die eifersüchtige Stella
die Komtesse ersticht, sondern Johann Christian aus Verzweiflung, daß Antonie nichts mehr von
ihm wissen will, sich selber den Tod gibt. In der Vereinigung der mancherlei altertümlichen
Elemente und Reminiszenzen an die Tage des Harlekins, des Singspiels der englischen Komö¬
dianten und der blutrünstigen Haupt= und Staatsaktionen, der galanten Schäfereien und des
Lohensteinschen Schwulstes, dem in der Doesie Günthers, Bierbaums Johann Christian, nach
langer Zeit wieder einmal die Stimme der Natur entgegentritt, scheint mir der Wert, richtiger
der Kuriositätswert von Vierbaums Schauspiel zu liegen. — In der Rolle der Antonie bot Ida
Roland eine recht interessante und vielversprechende Leistung. Um so ahnungsloser stand, soweit
es sich nicht um den etwas reichlich ausgedehnten Liedervortrag handelte, ein ad hoc engagiertes
Fräulein Bardi der Rolle der Stella gegenüber. Hans Mischke bot als Johann Christian
wohl seine beste bisherige Leistung.
Die einaktige Komödie vom Schlachtenlenker hat uns die erste Bekanntschaft mit dem in
letzter Zeit viel genannten englischen Dramatiker auf der Bühne vermittelt, nicht eben unglücklich,
j da sie spezisische Seiten von Shaws Individualität und Talent recht charakteristisch zeigt. Diel¬
leicht bezeichnet man das Stück am treffendsten als eine Parodie auf Carlples berühmtes Buch
über „Belden und Heldenverehrung“. Shaw gefällt sich bald freiwillig in der Rolle des Kammer¬
dieners, für den es keinen großen Mann gibt, bald sucht er ernsthaft dem Genie die Züge, die
es zum Genie machen, abzulauschen, bald gefällt er sich in echt englischen Clownspäßen. Seine
Charakteristik des jungen, skrupellosen, ehrgeizigen Uebermenschen und Siegers von Marengo ent¬
hält köstliche Finessen. Nicht minder die der unbekannten Schönen aus Paris, die die Josephine
kompromittierenden Briefe an Barras vor den Augen des Ehemanns retten soll. Aber List,
Intrige, Plänkelei und Schlußaktion geraten gar zu breit und schließlich gar zu possenhaft, so
daß unser Interesse an den Bühnenvorgängen erlahmt, obgleich Agnes Sorma die fremde
Dame in jeder Beziehung wirklich charmant und drollig verkörperte und auch Max Reinhardt,
so wenig ihm die Rolle des jungen Napoleon liegt, seine eindringliche Charakterisierungskunst
betätigte. — Unter allzu großer Ausdehnung einzelner Scenen und der Zwitterhaftigkeit der Ge¬
samtstruktur leidet auch Maeterlincks Legende. Der Dichter deutet zwar in einem Vorwort be¬
scheiden an, er habe nur ein Libretto geliefert, aber er hat doch weit mehr geboten, und anderseits
ist die stimmungsvolle und durchweg gut angepaßte Musik Max Marschalks so ausgedehnt, als
handle es sich um ein Musikdrama, und doch wieder keine Opernmusik. Und so ist schließlich so
etwas wie ein Melodrama zu stande gekommen, in dem die Musik das gesprochene Wort und
das gesprochene Wort die Musik abwechselnd störend ablöst. In der Doppelrolle der unzufriedenen
Nonne, die nächtlicherweile mit dem Liebhaber entflieht, und der Gottesmutter, die von ihrem
Diedestal in der Alosterkirche herabsteigt und zwanzig Jahre lang die Rolle der entflohenen
Schwester Zeatrix spielt, bis diese müde und gebrochen von allen Enttäuschungen und Lastern des
Lebens zurückkehrt, um im Schutz der heiligen Mauern ihre renige Seele auszuhauchen, bot
Agnes Sorma die vielleicht bedeutendste ihrer bisherigen Schöpfungen, und niemals schien sie
wir der Duse so gleich zu kommen in der rührenden Jnnigkeit der großen flehenden, erschreckten.
Augen, der lieblichen Demut und der strahlenden Hoheit, in der scharf und sicher auseinander¬
gehaltenen Charakteristik der ins Leben Fliehenden und gebrochen Zurückkehrenden. Die Beredt¬
samkeit ihres stummen Spieles als Maris, die sich in Beatrir verwandelt hat, und von Aebtissin,
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