box 23/1
18. Der einsane Neg
dem er ihm selbst den Zusammenhang
offenbart. Felix, so hofft er mit der
naiven Selbstsucht des Künstlers, wird
ihm ohne Bedenken an die Brust flie¬
gen. Aber er täuscht sich. In an¬
derer Art, als er meint, hat Felix den
„Sinn für das Wesentliche“. Daß
Fichtner sein Vater, ist ihm eine
Wahrheit ohne Kraft, eine unfrucht¬
bare Tatsache, die ihn nur noch enger
an den Mann kettet, in dessen Haus
er geboren und auferzogen, der seine
Kindheit und Jugend geleitet und be¬
hütet, der seine Mutter geliebt hat.
So muß Julian Fichtner einsam den
Weg zu Ende gehen, auf dessen Höhe
ihn so viele Genüsse und Freuden und
so wenig eigenes Pflichtgefühl und
eigene Liebefähigkeit begleitet haben.
Wie ihm ergeht es seinem Freunde,
dem Herrn von Sala, einem skepti¬
schen Schöngeist, der in manchem ein
getreues Spiegelbild Fichtners ist,
nur daß er sich selbst ein gut Teil
weniger wehleidig nimmt als dieser
und sich im Grunde über die Taubheit
seiner Seele völlig klar zu sein scheint.
Nach einem an Schmuck und Reizen
überreichen, an wahrer Liebe armen
Leben findet er spät noch die Hin¬
gebung eines jungen Mädchens, der
Tochter Gabrielens, der, wie einst
ihrer Mutter, Schuldlosigkeit nicht die
höchste Tugend zu sein scheint. Aber
er hat dieses unverhoffte Glück zu
empfangen und zu vergelten keine
Kraft mehr. Als er erfährt, daß Jo¬
hanna in den Tod gegangen, weil
sie wußte, daß seine Tage und Stun¬
den gezählt, daß sie selbst aber nicht
stark genug, einen Kranken selbstlos
zu pflegen, da räumt auch er sich aus
dem Wege, ehe noch ein mächtigerer
es tut. Er erfüllt damit nur sein
Schicksal, das er klar und untrüglich
erkannt hat: „Und wenn uns ein Zug
von Bacchanten begleitet, den Weg
hinab gehen wir alle allein — wir,
die wir selbst niemandem gehört
haben.“
642
Die übrig bleiben, reichen sich in
seelischer Wahlverwandtschaft desto
fester die Hände: in der trübsten
Stunde seines Lebens, da er nach
seiner Frau auch seine Tochter ver¬
loren — beide haben ihm eigentlich
nie gehört —, schenkt sich dem alten
Wegrath, diesem kindlich Ahnungs¬
losen und Gütigen, Felix im Geiste
und in der Wahrheit als sein Sohn,
indem er dem alten Manne freudig
all seine eigenen heißesten Wünsche
und Hoffnungen opfert. Denn lieben
heißt: sich einem andern geben, ohne
den Gedanken an Vorteil oder Ge¬
winn, und der junge Ulanenoffizier,
der so selbstverständlich den Weg der
Pflicht und der Liebe geht, ist wirk¬
lich schon einer von jenem Geschlecht
der Zukunft, das Schnitzler mehr re¬
signiert als hoffend ersehnt: „Weni¬
ger Geist und mehr Haltung.“ So
gibt es doch zwei, deren Weg hinab
nicht einsam sein wird, die unter den
Schauern des Todes ihre Hand zu
finden wußten und sie halten wer¬
den bis zum Ende.
Auch sonst noch wird das Thema
von der Selbstsucht und der Opfer¬
freudigkeit der Liebe mannigfach va¬
riiert. Man muß im Buche (Berlin,
S. Fischer) nachlesen, wie viel
Feines und Geistreiches Schnitzler
dabei einfällt, um am Ende
doch aber auch hier wieder zu er¬
kennen, daß ihm Mut, Glaube und
Kraft fehlt, alle diese zerfließenden
und zerflatternden Töne zu einer star¬
ken, wuchtigen Melodie zu sammeln,
mit der wir jubelnd emperfliegen
könnten.
Ein seltsames Zweigespann wählte
sich das „Neue Theater“ für seinen
letzten Premierenabend. Mit Mae¬
terlincks Legende) „Schwester
Beatrix“ fügte es Bernard
Shaws Komödie „Deer Schlach¬
tenlenker“ zusammen, vielleicht
weil es, nicht ganz' mit Unrecht, in
beiden, in dem Vlamen wie in dem
Kunstwart
18. Der einsane Neg
dem er ihm selbst den Zusammenhang
offenbart. Felix, so hofft er mit der
naiven Selbstsucht des Künstlers, wird
ihm ohne Bedenken an die Brust flie¬
gen. Aber er täuscht sich. In an¬
derer Art, als er meint, hat Felix den
„Sinn für das Wesentliche“. Daß
Fichtner sein Vater, ist ihm eine
Wahrheit ohne Kraft, eine unfrucht¬
bare Tatsache, die ihn nur noch enger
an den Mann kettet, in dessen Haus
er geboren und auferzogen, der seine
Kindheit und Jugend geleitet und be¬
hütet, der seine Mutter geliebt hat.
So muß Julian Fichtner einsam den
Weg zu Ende gehen, auf dessen Höhe
ihn so viele Genüsse und Freuden und
so wenig eigenes Pflichtgefühl und
eigene Liebefähigkeit begleitet haben.
Wie ihm ergeht es seinem Freunde,
dem Herrn von Sala, einem skepti¬
schen Schöngeist, der in manchem ein
getreues Spiegelbild Fichtners ist,
nur daß er sich selbst ein gut Teil
weniger wehleidig nimmt als dieser
und sich im Grunde über die Taubheit
seiner Seele völlig klar zu sein scheint.
Nach einem an Schmuck und Reizen
überreichen, an wahrer Liebe armen
Leben findet er spät noch die Hin¬
gebung eines jungen Mädchens, der
Tochter Gabrielens, der, wie einst
ihrer Mutter, Schuldlosigkeit nicht die
höchste Tugend zu sein scheint. Aber
er hat dieses unverhoffte Glück zu
empfangen und zu vergelten keine
Kraft mehr. Als er erfährt, daß Jo¬
hanna in den Tod gegangen, weil
sie wußte, daß seine Tage und Stun¬
den gezählt, daß sie selbst aber nicht
stark genug, einen Kranken selbstlos
zu pflegen, da räumt auch er sich aus
dem Wege, ehe noch ein mächtigerer
es tut. Er erfüllt damit nur sein
Schicksal, das er klar und untrüglich
erkannt hat: „Und wenn uns ein Zug
von Bacchanten begleitet, den Weg
hinab gehen wir alle allein — wir,
die wir selbst niemandem gehört
haben.“
642
Die übrig bleiben, reichen sich in
seelischer Wahlverwandtschaft desto
fester die Hände: in der trübsten
Stunde seines Lebens, da er nach
seiner Frau auch seine Tochter ver¬
loren — beide haben ihm eigentlich
nie gehört —, schenkt sich dem alten
Wegrath, diesem kindlich Ahnungs¬
losen und Gütigen, Felix im Geiste
und in der Wahrheit als sein Sohn,
indem er dem alten Manne freudig
all seine eigenen heißesten Wünsche
und Hoffnungen opfert. Denn lieben
heißt: sich einem andern geben, ohne
den Gedanken an Vorteil oder Ge¬
winn, und der junge Ulanenoffizier,
der so selbstverständlich den Weg der
Pflicht und der Liebe geht, ist wirk¬
lich schon einer von jenem Geschlecht
der Zukunft, das Schnitzler mehr re¬
signiert als hoffend ersehnt: „Weni¬
ger Geist und mehr Haltung.“ So
gibt es doch zwei, deren Weg hinab
nicht einsam sein wird, die unter den
Schauern des Todes ihre Hand zu
finden wußten und sie halten wer¬
den bis zum Ende.
Auch sonst noch wird das Thema
von der Selbstsucht und der Opfer¬
freudigkeit der Liebe mannigfach va¬
riiert. Man muß im Buche (Berlin,
S. Fischer) nachlesen, wie viel
Feines und Geistreiches Schnitzler
dabei einfällt, um am Ende
doch aber auch hier wieder zu er¬
kennen, daß ihm Mut, Glaube und
Kraft fehlt, alle diese zerfließenden
und zerflatternden Töne zu einer star¬
ken, wuchtigen Melodie zu sammeln,
mit der wir jubelnd emperfliegen
könnten.
Ein seltsames Zweigespann wählte
sich das „Neue Theater“ für seinen
letzten Premierenabend. Mit Mae¬
terlincks Legende) „Schwester
Beatrix“ fügte es Bernard
Shaws Komödie „Deer Schlach¬
tenlenker“ zusammen, vielleicht
weil es, nicht ganz' mit Unrecht, in
beiden, in dem Vlamen wie in dem
Kunstwart