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1san
18. Der ein. Neg
nur wenige Tage aufhalten. Aber ich blieb. Einigemal nahm ich mir vor,
zur rechten Zeit wieder abzureisen: aber ich blieb. Und (lächelnd) mit
schicksalshafter Notwendigkeit glitten wir in Sünde, Glück, Verhängnis, Ver¬
rat — und Traum. Ja wahrhaftig, davon hatte es am allermeisten. Und
nach diesem letzten Abschied, der nur für eine Nacht gelten sollte; — als
ich in das kleine Wirtshaus zurückgekehrt war und alles für die Reise in
Ordnung brachte, kam ich eigentlich das erste Mal recht zum Bewußtsein
der Dinge, die geschehen waren und die bevorstanden. Es war wirklich
beinah, wie wenn ich erwachte. Erst jetzt, in der Stille der Nacht, während
ich am offenen Fenster stand, wurde es mir klar, daß morgen früh eine
Stunde kam, die über meine ganze Zukunft entscheiden sollte. Und da
begann es ... wie leichte Schauer über mich zu fließen. Unten sah ich
die Straße hinlaufen, auf der ich gekommen war; die führte ins Land
hinaus, stieg die Hügel hinan, die die Aussicht versperrten, und verlor sich
ins Weite, ins Unbegrenzte — zu tausend unbekannten, unsichtbaren Straßen,
die alle in diesem Augenblick noch zu meiner freien Verfügung standen.
Mir war, als läge dort, hinter jenen Hügeln meine Zukunft, schimmernd
von Glanz und Abenteuern, und wartete auf mich ... aber auf mich
allein. Das Leben gehörte mir — aber nur dieses eine. Und um es ganz
zu nehmen und ganz zu genießen, um es so zu leben, wie es mir bestimmt
war, braucht' ich völlige Sorglosigkeit und Freiheit wie bisher. Und ich
wunderte mich beinah, daß ich so bereit gewesen war, die Unbekümmertheit
meiner Jugend, die Fülle meines Daseins hinzugeben ... Und wofür? —
Für eine Leidenschaft, die in all ihrer Glut und Süßigkeit doch begonnen
hatte wie manche andere und bestimmt war, zu enden wie alle.
Felix: Bestimmt war zu enden?. .. enden mußte?
Julian: Ja. Mußte. Im Augenblick, da ich das Ende vorhersah,
war es gewissermaßen schon da. Auf etwas warten, das kommen muß,
heißt, es tausendmal, heißt, es in Wehrlosigkeit und Ueberdruß und Zorn
erleben. Das wußt' ich tief in dieser Stunde. Und ich hatte Angst davor.
Dabei fühlt' ich ganz gut, daß ich im Begriff war, gegen ein Wesen, das
sich mir vertrauensvoll hingegeben, rücksichtslos, verräterisch zu handeln.
Aber alles schien mir wünschenswerter — nicht nur für mich, auch für
sie — als ein langsames, klägliches, unwürdiges Vergehen. Und alle meine
Bedenken gingen unter in der ungeheuern Sehnsucht, mein Leben pflichten¬
los, ungebunden weiterzuführen. Viel Zeit zu überlegen hatt' ich nicht.
Und ich war froh darüber. Ich war entschlossen. Ich wartete den Morgen
nicht ab. Noch eh' die Sterne untergegangen waren, bin ich fort.
Felix: Entflohen
Julian: Nenn' es, wie du magst. — Ja, es war eine Flucht, so
gut und so schlecht, so unbedenklich und ... so feig wie irgend eine.
mit aller Angst des Verfolgtwerdens, mit aller Glückseligkeit des Entkommen¬
seins. Ich verhehle dir nichts, Felix. Du bist jung, es wäre sogar möglich,
daß du es besser begreifst, als ich selbst es heute begreife. Es zog mich
nicht zurück, keine Spur von Reue regte sich. Wie ein Rausch durchströmte
mich das Gefühl, frei zu sein. — Schon am Ende des ersten Tages war
ich weit, — weiter, als auf irgendeinem Meilenzeiger zu lesen stand: schon
an diesem ersten Tag begann das Bild der Frau zu verblassen, die zu
einer schmerzlichen Enttäuschung, vielleicht zu Schlimmerem erwacht war,
543
2. Juliheft 1904
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18. Der ein. Neg
nur wenige Tage aufhalten. Aber ich blieb. Einigemal nahm ich mir vor,
zur rechten Zeit wieder abzureisen: aber ich blieb. Und (lächelnd) mit
schicksalshafter Notwendigkeit glitten wir in Sünde, Glück, Verhängnis, Ver¬
rat — und Traum. Ja wahrhaftig, davon hatte es am allermeisten. Und
nach diesem letzten Abschied, der nur für eine Nacht gelten sollte; — als
ich in das kleine Wirtshaus zurückgekehrt war und alles für die Reise in
Ordnung brachte, kam ich eigentlich das erste Mal recht zum Bewußtsein
der Dinge, die geschehen waren und die bevorstanden. Es war wirklich
beinah, wie wenn ich erwachte. Erst jetzt, in der Stille der Nacht, während
ich am offenen Fenster stand, wurde es mir klar, daß morgen früh eine
Stunde kam, die über meine ganze Zukunft entscheiden sollte. Und da
begann es ... wie leichte Schauer über mich zu fließen. Unten sah ich
die Straße hinlaufen, auf der ich gekommen war; die führte ins Land
hinaus, stieg die Hügel hinan, die die Aussicht versperrten, und verlor sich
ins Weite, ins Unbegrenzte — zu tausend unbekannten, unsichtbaren Straßen,
die alle in diesem Augenblick noch zu meiner freien Verfügung standen.
Mir war, als läge dort, hinter jenen Hügeln meine Zukunft, schimmernd
von Glanz und Abenteuern, und wartete auf mich ... aber auf mich
allein. Das Leben gehörte mir — aber nur dieses eine. Und um es ganz
zu nehmen und ganz zu genießen, um es so zu leben, wie es mir bestimmt
war, braucht' ich völlige Sorglosigkeit und Freiheit wie bisher. Und ich
wunderte mich beinah, daß ich so bereit gewesen war, die Unbekümmertheit
meiner Jugend, die Fülle meines Daseins hinzugeben ... Und wofür? —
Für eine Leidenschaft, die in all ihrer Glut und Süßigkeit doch begonnen
hatte wie manche andere und bestimmt war, zu enden wie alle.
Felix: Bestimmt war zu enden?. .. enden mußte?
Julian: Ja. Mußte. Im Augenblick, da ich das Ende vorhersah,
war es gewissermaßen schon da. Auf etwas warten, das kommen muß,
heißt, es tausendmal, heißt, es in Wehrlosigkeit und Ueberdruß und Zorn
erleben. Das wußt' ich tief in dieser Stunde. Und ich hatte Angst davor.
Dabei fühlt' ich ganz gut, daß ich im Begriff war, gegen ein Wesen, das
sich mir vertrauensvoll hingegeben, rücksichtslos, verräterisch zu handeln.
Aber alles schien mir wünschenswerter — nicht nur für mich, auch für
sie — als ein langsames, klägliches, unwürdiges Vergehen. Und alle meine
Bedenken gingen unter in der ungeheuern Sehnsucht, mein Leben pflichten¬
los, ungebunden weiterzuführen. Viel Zeit zu überlegen hatt' ich nicht.
Und ich war froh darüber. Ich war entschlossen. Ich wartete den Morgen
nicht ab. Noch eh' die Sterne untergegangen waren, bin ich fort.
Felix: Entflohen
Julian: Nenn' es, wie du magst. — Ja, es war eine Flucht, so
gut und so schlecht, so unbedenklich und ... so feig wie irgend eine.
mit aller Angst des Verfolgtwerdens, mit aller Glückseligkeit des Entkommen¬
seins. Ich verhehle dir nichts, Felix. Du bist jung, es wäre sogar möglich,
daß du es besser begreifst, als ich selbst es heute begreife. Es zog mich
nicht zurück, keine Spur von Reue regte sich. Wie ein Rausch durchströmte
mich das Gefühl, frei zu sein. — Schon am Ende des ersten Tages war
ich weit, — weiter, als auf irgendeinem Meilenzeiger zu lesen stand: schon
an diesem ersten Tag begann das Bild der Frau zu verblassen, die zu
einer schmerzlichen Enttäuschung, vielleicht zu Schlimmerem erwacht war,
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2. Juliheft 1904