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18. Der einsane Neg
Die Schaubühne
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undzwanzig inhaltreiche Jahre älter geworden. Dieser ironiebegabte
Dichter findet nicht den Ton, der jene Tat zugleich berichtete und
kritisierte. Erst nach dem Ruf: „Er ist gerichtet!“ darf der Ruf:
„Er ist gerettet!“ ertönen. In der Schnitzlerwelt ist man schnell
bereit, den andern, und noch schneller, sich selber zu verzeihen.
Freilich gibt diese ethische Unbefangenheit der Dichtung ihren be¬
sondern Duft. „Das Klima der Begebenheit“, wie Tieck zu sagen
liebte, hat eine leichte Beigabe von Verwesungsgeruch. Morbidezza¬
stimmungen schweben um das ganze Werk und um jede Zelle¬
seines Baus, unendlich süß und von ergreifender Schwermut.
Die Vorstellung des Lessing=Theaters hat sich in den zwei Jahren
seit der Premiere sehr vervollkommnet, um leider in einem ent¬
scheidenden Punkt aufs ärgste und ärgerlichste zu versagen. Eine
Leistung wie Herrn Reichers Julian Fichtner kann Brahm nicht
ohne schwere Schädigung für den Dichter, für den Schauspieler
und für den Ruf des Theaters den empfindlichen Wienern vor¬
führen. Das klingt bei einem so verdienten Schauspieler wie
Übertreibung, aber man muß es erlebt haben. Herr Reicher hatte,
wie gewöhnlich, keine Ahnung von seiner Rolle. Wenn er der
Soffleuse, die sich im Lauf des Abends heiser schrie, glücklich einen
Satz entwunden hatte, wälzte er ihn im schmalzigsten Pathos so
lange breit, bis seine ängstlich gespannten Ohren den nächsten Satz
ergattert hatten. Nun gibt es nichts Schädlicheres für dieses lang¬
same Stück als eine weitere Verschleppung des Tempos und nichts
Gefährlicheres für diese heikle Figur als Pathetik, und gar eine Pathetik,
die nicht der Überzeugung, sondern der Gedächtnisschwäche entstammt.
Herr Reicher ging darin so weit, daß selbst das berliner Publikum, das
wenig Sonderverständnis für schauspielerische Arbeit hat, unruhig
wurde. In Wien wird gepfiffen; wofern Brahm nicht rechtzeitig
beweist, daß an seinem Theater Kunstfragen und nicht Personen¬
fragen entscheiden.
Es ist schwer zu sagen, ob diese Folie nötig war, um Leistungen
wie die Gabriele Wegrath von Frau Pauly und den Sohn Felix
von Herrn Stieler sympathisch zu machen; ob auch ohne die Er¬
innerung an seinen Vorgänger Herrn Marrs Doktor Reumann wie.
ein ganzer Mensch gewirkt hätte. Die andern Gestaltungen können
unbedenklicher bewundert werden. Sauer wird bescheidenen Seelen¬
adel, wie er im Professor Wegrath, allen unsichtbar, lebendig ist,
18. Der einsane Neg
Die Schaubühne
49
undzwanzig inhaltreiche Jahre älter geworden. Dieser ironiebegabte
Dichter findet nicht den Ton, der jene Tat zugleich berichtete und
kritisierte. Erst nach dem Ruf: „Er ist gerichtet!“ darf der Ruf:
„Er ist gerettet!“ ertönen. In der Schnitzlerwelt ist man schnell
bereit, den andern, und noch schneller, sich selber zu verzeihen.
Freilich gibt diese ethische Unbefangenheit der Dichtung ihren be¬
sondern Duft. „Das Klima der Begebenheit“, wie Tieck zu sagen
liebte, hat eine leichte Beigabe von Verwesungsgeruch. Morbidezza¬
stimmungen schweben um das ganze Werk und um jede Zelle¬
seines Baus, unendlich süß und von ergreifender Schwermut.
Die Vorstellung des Lessing=Theaters hat sich in den zwei Jahren
seit der Premiere sehr vervollkommnet, um leider in einem ent¬
scheidenden Punkt aufs ärgste und ärgerlichste zu versagen. Eine
Leistung wie Herrn Reichers Julian Fichtner kann Brahm nicht
ohne schwere Schädigung für den Dichter, für den Schauspieler
und für den Ruf des Theaters den empfindlichen Wienern vor¬
führen. Das klingt bei einem so verdienten Schauspieler wie
Übertreibung, aber man muß es erlebt haben. Herr Reicher hatte,
wie gewöhnlich, keine Ahnung von seiner Rolle. Wenn er der
Soffleuse, die sich im Lauf des Abends heiser schrie, glücklich einen
Satz entwunden hatte, wälzte er ihn im schmalzigsten Pathos so
lange breit, bis seine ängstlich gespannten Ohren den nächsten Satz
ergattert hatten. Nun gibt es nichts Schädlicheres für dieses lang¬
same Stück als eine weitere Verschleppung des Tempos und nichts
Gefährlicheres für diese heikle Figur als Pathetik, und gar eine Pathetik,
die nicht der Überzeugung, sondern der Gedächtnisschwäche entstammt.
Herr Reicher ging darin so weit, daß selbst das berliner Publikum, das
wenig Sonderverständnis für schauspielerische Arbeit hat, unruhig
wurde. In Wien wird gepfiffen; wofern Brahm nicht rechtzeitig
beweist, daß an seinem Theater Kunstfragen und nicht Personen¬
fragen entscheiden.
Es ist schwer zu sagen, ob diese Folie nötig war, um Leistungen
wie die Gabriele Wegrath von Frau Pauly und den Sohn Felix
von Herrn Stieler sympathisch zu machen; ob auch ohne die Er¬
innerung an seinen Vorgänger Herrn Marrs Doktor Reumann wie.
ein ganzer Mensch gewirkt hätte. Die andern Gestaltungen können
unbedenklicher bewundert werden. Sauer wird bescheidenen Seelen¬
adel, wie er im Professor Wegrath, allen unsichtbar, lebendig ist,