18. Der einsane Neg
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Bühnenschau
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sonnige Zauberland seiner Phantasie. — Um dieses Inhaltsgerippe hat Hauptmann
poetisches Geranke von solcher Uppigkeit geschlungen, daß der Philisterwelt, die nie
in Michels Traumreich geweilt und Pippa nie tanzen gesehen, ganz wirr im Kopf
wurde, und das Fragen und Deuteln ging an. Pippa soll die Phantasie, die Schön¬
heit, die Poesie, die Jugend, die Hoffnung und vielleicht noch mancherlei sein;
Michel Hellriegel soll die Sehnsucht der Deutschen nach dem Süden verkörpern, oder
den Jugendmut, oder auch die Romantik; Wann — das ist natürlich die Wissen¬
schaft; der alte Huhn aber — nun, irgend etwas wird er ja wohl auch vorstellen,
vielleicht das unentrinnbare Schicksal, vielleicht etwas Anderes. Einer fragt den
andern: „Haben Sie's verstanden?“ und dieser sucht sich dadurch interessant zu machen,
daß er die Frage bejaht, jener spielt den Erhabenen und meint: „Blödsinn das
Ganze!“ — Ich aber möchte mir die Frage erlauben: muß denn ein Märchen durch¬
aus „verstanden“ werden? Verstehen denn die Kinder die Märchen, die wir ihnen
erzählen und denen zu lauschen sie nie müde werden? Warum wollen wir einem
Dichterwerk gegenüber nicht zu harmlosen Kindern werden, das Herumdeuteln an
jeder Gestalt, an jedem Wort des Dichters aufgeben und nur einfach fühlen, daß
wir vor etwas Schönem, von Poesie Durchtränktem stehen? Es gibt ja im Leben
so viel des Klaren und Nüchternen, — gönnen wir uns doch zuweilen die Freude
an einem bunten, etwas verworrenen Traum, ohne uns zu fragen was er zu be¬
deuten habe! — Mir ist, als wäre Hauptmann selbst so ein Michel Hellriegel, der
freudig der Fackel der vorantanzenden Pippa nacheilte, unbekümmert darum, ob die
Zuschauer ihm folgen können. — Es ist behauptet worden, daß sich das Stück nicht
für die Bühne eigne und nur bei der Lektüre Genuß bereite; das mag für manche
Szenen stimmen, und doch möchte ich auf die Aufführung nicht verzichten. Da ist
z. B. gleich der erste Tanz Pippas, den der alte Huhn grunzend mithopst; dieser
Kontrast zwischen dem goldlockigen, graziösen Kinde und dem ungeschlachten Wald¬
menschen muß gesehen sein, wenn das Groteske, Unheimliche und doch Rührende,
das in ihm liegt, zur vollen Wirkung kommen soll; wer durchaus nach Symbolistik
sucht, findet sie übrigens schon in dieser Szene: die Phantasie oder die Hoffnung tanzt
mit dem Schicksal.
Hauptmann hat dem alten Huhn den Ausruf „Jumalai!“ in den Mund ge¬
legt; man hat gefragt, ob das ein Naturlaut, ein Fremdwoct oder sonst was sei.
Ich weiß nun zufällig aus meinen Kindertagen, daß es ein estnisches Wort ist und
„Himmel“ oder auch „Gott“ bedeutet. Ich will damit nicht behaupten, daß der
Dichter, der Michel sagen läßt, es heiße wohl „Freude für alle!“, auf das estnische
Wort Bezug genommen; ich erwähne dessen nur, weil man auch dahinter allerlei
Besonderes gesucht hat.
In meinem vorigen Bericht sprach ich von dem ersten der für den Volks¬
theaterpreis vorgeschlagenen Stücke; es erübrigt nun noch zu melden, daß auch die
beiden andern von der Prüfungskommission erwählten Werke sich als ziemlich wert¬
lose Arbeiten erwiesen. M. E. delle Grazies Drama „Ver sacrum“ behandelt
die Frage: Was soll ein junges Mädchen tun, wenn es dahinterkommt, daß seine
Mutter eine Ehebrecherin ist? un läßt die Tochter schließlich in den Tod gehen.
Das Stück hat einige psychologisch interessante Partien, ist aber wegen seines Mangels
an Handlung nicht bühnenreif. Leo Felds Lustspiel „Der Stein von Pisa“.
das in die Renaissancezeit führt und an operettenhaften Szenen reich ist, bietet dem
H. Brentano.
Auge viel, dem Gefühl und den Gedanken nichts.
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sonnige Zauberland seiner Phantasie. — Um dieses Inhaltsgerippe hat Hauptmann
poetisches Geranke von solcher Uppigkeit geschlungen, daß der Philisterwelt, die nie
in Michels Traumreich geweilt und Pippa nie tanzen gesehen, ganz wirr im Kopf
wurde, und das Fragen und Deuteln ging an. Pippa soll die Phantasie, die Schön¬
heit, die Poesie, die Jugend, die Hoffnung und vielleicht noch mancherlei sein;
Michel Hellriegel soll die Sehnsucht der Deutschen nach dem Süden verkörpern, oder
den Jugendmut, oder auch die Romantik; Wann — das ist natürlich die Wissen¬
schaft; der alte Huhn aber — nun, irgend etwas wird er ja wohl auch vorstellen,
vielleicht das unentrinnbare Schicksal, vielleicht etwas Anderes. Einer fragt den
andern: „Haben Sie's verstanden?“ und dieser sucht sich dadurch interessant zu machen,
daß er die Frage bejaht, jener spielt den Erhabenen und meint: „Blödsinn das
Ganze!“ — Ich aber möchte mir die Frage erlauben: muß denn ein Märchen durch¬
aus „verstanden“ werden? Verstehen denn die Kinder die Märchen, die wir ihnen
erzählen und denen zu lauschen sie nie müde werden? Warum wollen wir einem
Dichterwerk gegenüber nicht zu harmlosen Kindern werden, das Herumdeuteln an
jeder Gestalt, an jedem Wort des Dichters aufgeben und nur einfach fühlen, daß
wir vor etwas Schönem, von Poesie Durchtränktem stehen? Es gibt ja im Leben
so viel des Klaren und Nüchternen, — gönnen wir uns doch zuweilen die Freude
an einem bunten, etwas verworrenen Traum, ohne uns zu fragen was er zu be¬
deuten habe! — Mir ist, als wäre Hauptmann selbst so ein Michel Hellriegel, der
freudig der Fackel der vorantanzenden Pippa nacheilte, unbekümmert darum, ob die
Zuschauer ihm folgen können. — Es ist behauptet worden, daß sich das Stück nicht
für die Bühne eigne und nur bei der Lektüre Genuß bereite; das mag für manche
Szenen stimmen, und doch möchte ich auf die Aufführung nicht verzichten. Da ist
z. B. gleich der erste Tanz Pippas, den der alte Huhn grunzend mithopst; dieser
Kontrast zwischen dem goldlockigen, graziösen Kinde und dem ungeschlachten Wald¬
menschen muß gesehen sein, wenn das Groteske, Unheimliche und doch Rührende,
das in ihm liegt, zur vollen Wirkung kommen soll; wer durchaus nach Symbolistik
sucht, findet sie übrigens schon in dieser Szene: die Phantasie oder die Hoffnung tanzt
mit dem Schicksal.
Hauptmann hat dem alten Huhn den Ausruf „Jumalai!“ in den Mund ge¬
legt; man hat gefragt, ob das ein Naturlaut, ein Fremdwoct oder sonst was sei.
Ich weiß nun zufällig aus meinen Kindertagen, daß es ein estnisches Wort ist und
„Himmel“ oder auch „Gott“ bedeutet. Ich will damit nicht behaupten, daß der
Dichter, der Michel sagen läßt, es heiße wohl „Freude für alle!“, auf das estnische
Wort Bezug genommen; ich erwähne dessen nur, weil man auch dahinter allerlei
Besonderes gesucht hat.
In meinem vorigen Bericht sprach ich von dem ersten der für den Volks¬
theaterpreis vorgeschlagenen Stücke; es erübrigt nun noch zu melden, daß auch die
beiden andern von der Prüfungskommission erwählten Werke sich als ziemlich wert¬
lose Arbeiten erwiesen. M. E. delle Grazies Drama „Ver sacrum“ behandelt
die Frage: Was soll ein junges Mädchen tun, wenn es dahinterkommt, daß seine
Mutter eine Ehebrecherin ist? un läßt die Tochter schließlich in den Tod gehen.
Das Stück hat einige psychologisch interessante Partien, ist aber wegen seines Mangels
an Handlung nicht bühnenreif. Leo Felds Lustspiel „Der Stein von Pisa“.
das in die Renaissancezeit führt und an operettenhaften Szenen reich ist, bietet dem
H. Brentano.
Auge viel, dem Gefühl und den Gedanken nichts.