box 23/4
nsam
18. Der Feg
Husschnitt aus: Hamburgr Nachrichten
A4FEB.1914 Hamburg.
vom:
1
wiener Theater.
(Von unserem Dr. H.=Mitarbeiter.)
Das Burgtheater mußte sich jüngst vom Verband deutscher Büh¬
nenschriftsteller sagen lassen, daß es deutsche Dramatik zu Gunsten
fremdländischer vernachlässige; das ist dieselbe Feststellung, die schon
an dieser Stelle als vorläufige Frucht der den Höhenunkt bereits
überschritten habenden diesjährigen Spielzeit gemacht wurde. Wie
um ihr Versäumnis wieder gut zu machen, das leider aus den
Kassenerfolgen der bisherigen leichten, wertlosen Theaterware er¬
klärt werden muß, brachte die Hofbühne Arthur Schnitz¬
lers Schauspiel „Der einsame Weg“ heraus. Das
Werk ist für die Wiener Bühne eine Neuheit; es wurde bei seiner
Erstaufführung in Berlin vor zehn Jahren unter Gelächter abge¬
lehnt, wurde dann von Brahm in Wien ein paar Mal mit Berliner
Künstlern aufgeführt und verschwand dann völlig aus dem Gesichts¬
kreis. Warum das Burgtheater das Stück zu neuem Leben erweckte,
ist nicht recht einzusehen; es ist wohl Schnitzlerscher Geist, der dar¬
innen umgeht, es ist aber keineswegs gut. Die verschiedenen Hand¬
lungen, die nebeneinander herlaufen, bleiben im äußerlichen hän¬
gen, sie bilden nur Paraphrasen zu dem eigentlichen Thema, das¬
nach dem Titel die Richtung weisend, Menschen darstellt, die ihre
eigenen Wege gehen, dunkel und abseitsführend von sich selber und
den anderen. Und so leben diese Menschen, die uns Schnitzser in
recht buntem Reigen vorführt, im Grund ihrer Seele aneinander
vorbei und reden sich doch wieder unendlich viel gegen einander aus.
Man weiß nicht, sind ihre Schicksale, die sie bewußt oder unbewußt
mit sich schleppen, erlebt oder sind sie Vorstellungen einer selbst¬
quälerischen Psychose, sind sie wahr, echt und darum wahrhaft tra¬
gisch, oder spielen ihre Träger Theater im Theater. An diesem
Zwiespalt, der trotz langatmigen Erörterungen, Selbstkritiken und
Diskussionen immer wieder hervorbricht, scheitert Anlage und Ver¬
lauf der Handlung; diese Menschen haben uns sämtlich viel zu
sagen, ein jeder erleichtert seine Seele oder hofft wenigstens, sich die
Last von seinem inneren Menschen herunterzusprechen, aber wir
verstehen nicht, was sie drückt, die psychologische Hypertrophie über¬
wuchert den Verstand und die sinnliche Anschauung von den gegebe¬
nen Tatsachen; es ist, als wenn ein Psychiater uns die seelische
Verfassung eines Menschen unter einem Schwall fachmännischer
Gelehrsamkeit, deren Kern wir aus dem Konversationslexikon her¬
ausschälen müssen, schildern wollte, anstatt uns menschlich einfach
Grund und Ursach zu nennen, aus der wir dann allein, rein nach¬
fühlend, zur Erkenntnis des Leidens gelangen. — Also alle Men¬
schen des Schnitzlerschen Schauspiels gehen ihren einsamen Weg:
der biedere Akademiedirektor Wegrath, der, ganz Pflichtmensch,
ahnungslos gegenüber Weib und Kindern seinen idealen Beruf
handwerksmäßig erfüllt sein Weib ist mit einer Lüge in die Ehe
getreten, denn ihr Erstgeborener hat den Maler Julian Fichtner zum
Vater, ihr Geheimnis macht sie einsam in ihrer Schuld, und so
wankt sie dem Grabe zu, das sie schon nach dem ersten Akt aufge¬
nommen hat. Julian Fichtner ist Junggeselle geblieben, im Rausche
seines forcierten Künstlertums hat er sich nicht um seinen Sohn
gekümmert, er sah ihn wohl untergebracht und glaubte, sich selbst
genügen zu können. Aber als er im einsamen Alter sich dem Sohn
offenbart, da wendei sich dieser von ihm und Fichtner geht in die
Lebensöde, die ihn schon langsam umklammert hat. Und wiederum,
wie ohne Zusammenhang, wandelt die Schwester des jungen Weg¬
raths ihre Bahn, in ihrem Seelenleben verbildet, fällt sie einem
schon ergrauten Verführer mit Bewußtsein zum Opfer, ertränkt sich,
und er miß ihr, ein Todeskandidat an sich schon, folgen. So ent¬
schwinden alle diese Gestalten; wir wissen nicht, wohin sie sich
wenden, wir wissen aber auch nicht, woher sie gekommen, vor ihren
Seelen breiten sich düstere Schleier; sie blieben uns fremd und
wir gefühllos mit ihnen. Das Drama erhebt nicht und versöhnt
nicht, in ihm waltet der körperliche und feelische Tod. Die Auf¬
führung war nicht schlecht; Herr Walden spielte den Sala, dem
Johanna, Wegraths Tochter, verfällt, wie alle seine Rollen sehr sau¬
ber und mit redlichem Bemühen; ebenso Devrient, Paulsen und
Gerasch. Fräulein Wohlgemut war für die Tochter Johanna zu
schwer und heroinenhaft; ein Lichtblick war Frau Bleibtreu in der
Rolle der Irene Herms, die einzige Gestalt, die Leben und Gesund¬
heit verbreitet. Die Aufnahme war matt; das Publikum zeigte
sich literarisch wohl erzogen und rief Schnitzler vom dritten Akt anz
aber auch aller Lokalpatriotismus kann nicht darüber hinwegtäll¬
schen, daß „Der einsame Weg“ kein lebensfähiges Stück ist.“
nsam
18. Der Feg
Husschnitt aus: Hamburgr Nachrichten
A4FEB.1914 Hamburg.
vom:
1
wiener Theater.
(Von unserem Dr. H.=Mitarbeiter.)
Das Burgtheater mußte sich jüngst vom Verband deutscher Büh¬
nenschriftsteller sagen lassen, daß es deutsche Dramatik zu Gunsten
fremdländischer vernachlässige; das ist dieselbe Feststellung, die schon
an dieser Stelle als vorläufige Frucht der den Höhenunkt bereits
überschritten habenden diesjährigen Spielzeit gemacht wurde. Wie
um ihr Versäumnis wieder gut zu machen, das leider aus den
Kassenerfolgen der bisherigen leichten, wertlosen Theaterware er¬
klärt werden muß, brachte die Hofbühne Arthur Schnitz¬
lers Schauspiel „Der einsame Weg“ heraus. Das
Werk ist für die Wiener Bühne eine Neuheit; es wurde bei seiner
Erstaufführung in Berlin vor zehn Jahren unter Gelächter abge¬
lehnt, wurde dann von Brahm in Wien ein paar Mal mit Berliner
Künstlern aufgeführt und verschwand dann völlig aus dem Gesichts¬
kreis. Warum das Burgtheater das Stück zu neuem Leben erweckte,
ist nicht recht einzusehen; es ist wohl Schnitzlerscher Geist, der dar¬
innen umgeht, es ist aber keineswegs gut. Die verschiedenen Hand¬
lungen, die nebeneinander herlaufen, bleiben im äußerlichen hän¬
gen, sie bilden nur Paraphrasen zu dem eigentlichen Thema, das¬
nach dem Titel die Richtung weisend, Menschen darstellt, die ihre
eigenen Wege gehen, dunkel und abseitsführend von sich selber und
den anderen. Und so leben diese Menschen, die uns Schnitzser in
recht buntem Reigen vorführt, im Grund ihrer Seele aneinander
vorbei und reden sich doch wieder unendlich viel gegen einander aus.
Man weiß nicht, sind ihre Schicksale, die sie bewußt oder unbewußt
mit sich schleppen, erlebt oder sind sie Vorstellungen einer selbst¬
quälerischen Psychose, sind sie wahr, echt und darum wahrhaft tra¬
gisch, oder spielen ihre Träger Theater im Theater. An diesem
Zwiespalt, der trotz langatmigen Erörterungen, Selbstkritiken und
Diskussionen immer wieder hervorbricht, scheitert Anlage und Ver¬
lauf der Handlung; diese Menschen haben uns sämtlich viel zu
sagen, ein jeder erleichtert seine Seele oder hofft wenigstens, sich die
Last von seinem inneren Menschen herunterzusprechen, aber wir
verstehen nicht, was sie drückt, die psychologische Hypertrophie über¬
wuchert den Verstand und die sinnliche Anschauung von den gegebe¬
nen Tatsachen; es ist, als wenn ein Psychiater uns die seelische
Verfassung eines Menschen unter einem Schwall fachmännischer
Gelehrsamkeit, deren Kern wir aus dem Konversationslexikon her¬
ausschälen müssen, schildern wollte, anstatt uns menschlich einfach
Grund und Ursach zu nennen, aus der wir dann allein, rein nach¬
fühlend, zur Erkenntnis des Leidens gelangen. — Also alle Men¬
schen des Schnitzlerschen Schauspiels gehen ihren einsamen Weg:
der biedere Akademiedirektor Wegrath, der, ganz Pflichtmensch,
ahnungslos gegenüber Weib und Kindern seinen idealen Beruf
handwerksmäßig erfüllt sein Weib ist mit einer Lüge in die Ehe
getreten, denn ihr Erstgeborener hat den Maler Julian Fichtner zum
Vater, ihr Geheimnis macht sie einsam in ihrer Schuld, und so
wankt sie dem Grabe zu, das sie schon nach dem ersten Akt aufge¬
nommen hat. Julian Fichtner ist Junggeselle geblieben, im Rausche
seines forcierten Künstlertums hat er sich nicht um seinen Sohn
gekümmert, er sah ihn wohl untergebracht und glaubte, sich selbst
genügen zu können. Aber als er im einsamen Alter sich dem Sohn
offenbart, da wendei sich dieser von ihm und Fichtner geht in die
Lebensöde, die ihn schon langsam umklammert hat. Und wiederum,
wie ohne Zusammenhang, wandelt die Schwester des jungen Weg¬
raths ihre Bahn, in ihrem Seelenleben verbildet, fällt sie einem
schon ergrauten Verführer mit Bewußtsein zum Opfer, ertränkt sich,
und er miß ihr, ein Todeskandidat an sich schon, folgen. So ent¬
schwinden alle diese Gestalten; wir wissen nicht, wohin sie sich
wenden, wir wissen aber auch nicht, woher sie gekommen, vor ihren
Seelen breiten sich düstere Schleier; sie blieben uns fremd und
wir gefühllos mit ihnen. Das Drama erhebt nicht und versöhnt
nicht, in ihm waltet der körperliche und feelische Tod. Die Auf¬
führung war nicht schlecht; Herr Walden spielte den Sala, dem
Johanna, Wegraths Tochter, verfällt, wie alle seine Rollen sehr sau¬
ber und mit redlichem Bemühen; ebenso Devrient, Paulsen und
Gerasch. Fräulein Wohlgemut war für die Tochter Johanna zu
schwer und heroinenhaft; ein Lichtblick war Frau Bleibtreu in der
Rolle der Irene Herms, die einzige Gestalt, die Leben und Gesund¬
heit verbreitet. Die Aufnahme war matt; das Publikum zeigte
sich literarisch wohl erzogen und rief Schnitzler vom dritten Akt anz
aber auch aller Lokalpatriotismus kann nicht darüber hinwegtäll¬
schen, daß „Der einsame Weg“ kein lebensfähiges Stück ist.“