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17.2. Der tanfere Cassian
206
DOKUMENTE DES FORTSCHRITTS
JAN. 1908
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Dadurch ist die Darstellungsmöglichkeit der Puppenbühne beschränkt,
zugleich aber sehr groß, jedenfalls aber durchaus verschieden von der des
Theaters. Die Bühne des bewegten Leblosen gestattet Szenerien, die man
ohne Verwunderung und als selbstverständlich ansicht, wie sie das Theater
nie bringen kann. Abnormitäten, Fabeltiere, Dämone, ja selbst tote Gegen¬
stände können genau so leicht mitspielen, wie Figuren, die der menschlichen
Gestalt nachgebildet sind.
Der Schauplatz des Puppenspieles ist also vor allem das Märchen¬
hafte. Die Märchenhandlung kann ebenso die naive Scherzhaftigkeit
eines Teufelskampfes wiedergeben, wie den Ausdruck geheimer Untergründe
der Seele. Die Frage, ob sie die einzige Wirkungsmöglichkeit der Puppen¬
bühne ist, läbt sich aus dem Charakter der Marionetten selbst beantworten.
Es gibt zwei Arten von Marionetten: vollständig ausgearbeitete Figuren mit
beweglichen Gledmaßen, die durch Drähte geleitet werden, und solche, bei
denen ein hohler Kopf und zwei Arme auf einen gewandartigen Sack genäht
sind, in den der Puppenführer die Hand steckt. Die leiseste Bewegung der
Finger ruft eine ungeheuer vergrößerte Verzerrung der Bewegungen der
Puppe hervor, die vom Zuschauer sofort unwillkürlich mit menschlicher
Psvchologie gedeutet wird. Jede Bewegung dieser Puppen hat etwas ungemein
Schmiegsames von der Beweglichkeit der menschlichen Hand, zugleich aber
etwas außerordentlich Starres, — den leeren Gesichtsausdruck des typisch be¬
malten Kopfes. So entsteht bei jeder Bewegung der handgeleiteten Puppen
die unmittelbare Wirkung des unerwartet Komischen. Bei den drahtgeleiteten
Marionetten wiederum genügt ein leiser Ruck, um die Bewegung der Glieder
ins Gewaltige zu übertragen, was im Widerspruch mit der Starrheit der übrigen
Glieder stcht. So ergibt sich die andere Wirkungsmöglichkeit des Puppen¬
theaters: die Groteske.
Märchen und Groteske bilden also das eigentliche Wirkungsfeld
des Puppentheaters; beide haben gemeinsam, daß das Wirkungsvollste ihrer
Handlung nur durch Puppen, nicht durch Menschen dargestellt werden kann.
Die auf die Schaffung eines modernen Marionettentheaters gerichteten
Strömungen der letzten Jahre müssen also ihre Stoffe dem Märchen und der
Groteske entlehnen. Die Verbindung dieser beiden Gebiete ergibt die roman¬
tische Burleske. In einer romantischen Burleske, wie Arthur Schnitzlers
„Tapferer Kassian“ scheint mir der Versuch vollkommen gelungen zu sein,
ein modernes Marionettenstück zu schreiben.
Ihren eigentlichen Dichter der Puppenbühne scheint die moderne deutsche
Literatur aber in Paul Scheerbart zu besitzen. Seine Phantasie läßt der
Gestaltung den freiesten Spielraum, die „Personen“ seiner kurzatmigen
Akte sind nicht nur Menschen, sondern auch Ungeheuer, Sternschnuppen,
Jupiterbewohner. Burlesken wie „Das damame Luder“ oder „Kammerdiener
Knetschke“ können ihre sicherste Wirkung auf der Marionettenbühne aus¬
üben. Kürzlich hat ein neues Puppenspielunternehmen (A. R. Meyer in Berlin)
auch versucht, Paul Scheerbart auf die Puppenbühne zu bringen, leider aber
mit bedauerlichem Mißerfolg. Der Dilettantismus der Veranstaltung ließ die
gute Absicht an dem Mangel jeder Vertrautheit mit dem technischen Material
der Puppenbühne scheitern. Auch die Wahl der Stücke war insofern unglück¬
lich, als man Szenen gab, in denen das gesprochene Wort die Herrschaft hat.
Das Wesentliche der Puppenbühne ist aber gerade, daß das Wort, auch das
witzigste, für sich nichts bedeutet, sondern nur Wert hat als Anlaß zu einer
bestimmt charakterisierten Bewegung.
□
Ob das Puppentheater in der heutigen Kultur wieder einen bedeutenderen
Platz gewinnen kann, erscheint allerdings zweifelhaft. Und wenn die Menschen¬
bühne erst das Drama hat, das der Kultur unserer Zeit entspricht, dann hat
das Puppendrama gewiß wieder ausgespielt.
S
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17.2. Der tanfere Cassian
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DOKUMENTE DES FORTSCHRITTS
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Dadurch ist die Darstellungsmöglichkeit der Puppenbühne beschränkt,
zugleich aber sehr groß, jedenfalls aber durchaus verschieden von der des
Theaters. Die Bühne des bewegten Leblosen gestattet Szenerien, die man
ohne Verwunderung und als selbstverständlich ansicht, wie sie das Theater
nie bringen kann. Abnormitäten, Fabeltiere, Dämone, ja selbst tote Gegen¬
stände können genau so leicht mitspielen, wie Figuren, die der menschlichen
Gestalt nachgebildet sind.
Der Schauplatz des Puppenspieles ist also vor allem das Märchen¬
hafte. Die Märchenhandlung kann ebenso die naive Scherzhaftigkeit
eines Teufelskampfes wiedergeben, wie den Ausdruck geheimer Untergründe
der Seele. Die Frage, ob sie die einzige Wirkungsmöglichkeit der Puppen¬
bühne ist, läbt sich aus dem Charakter der Marionetten selbst beantworten.
Es gibt zwei Arten von Marionetten: vollständig ausgearbeitete Figuren mit
beweglichen Gledmaßen, die durch Drähte geleitet werden, und solche, bei
denen ein hohler Kopf und zwei Arme auf einen gewandartigen Sack genäht
sind, in den der Puppenführer die Hand steckt. Die leiseste Bewegung der
Finger ruft eine ungeheuer vergrößerte Verzerrung der Bewegungen der
Puppe hervor, die vom Zuschauer sofort unwillkürlich mit menschlicher
Psvchologie gedeutet wird. Jede Bewegung dieser Puppen hat etwas ungemein
Schmiegsames von der Beweglichkeit der menschlichen Hand, zugleich aber
etwas außerordentlich Starres, — den leeren Gesichtsausdruck des typisch be¬
malten Kopfes. So entsteht bei jeder Bewegung der handgeleiteten Puppen
die unmittelbare Wirkung des unerwartet Komischen. Bei den drahtgeleiteten
Marionetten wiederum genügt ein leiser Ruck, um die Bewegung der Glieder
ins Gewaltige zu übertragen, was im Widerspruch mit der Starrheit der übrigen
Glieder stcht. So ergibt sich die andere Wirkungsmöglichkeit des Puppen¬
theaters: die Groteske.
Märchen und Groteske bilden also das eigentliche Wirkungsfeld
des Puppentheaters; beide haben gemeinsam, daß das Wirkungsvollste ihrer
Handlung nur durch Puppen, nicht durch Menschen dargestellt werden kann.
Die auf die Schaffung eines modernen Marionettentheaters gerichteten
Strömungen der letzten Jahre müssen also ihre Stoffe dem Märchen und der
Groteske entlehnen. Die Verbindung dieser beiden Gebiete ergibt die roman¬
tische Burleske. In einer romantischen Burleske, wie Arthur Schnitzlers
„Tapferer Kassian“ scheint mir der Versuch vollkommen gelungen zu sein,
ein modernes Marionettenstück zu schreiben.
Ihren eigentlichen Dichter der Puppenbühne scheint die moderne deutsche
Literatur aber in Paul Scheerbart zu besitzen. Seine Phantasie läßt der
Gestaltung den freiesten Spielraum, die „Personen“ seiner kurzatmigen
Akte sind nicht nur Menschen, sondern auch Ungeheuer, Sternschnuppen,
Jupiterbewohner. Burlesken wie „Das damame Luder“ oder „Kammerdiener
Knetschke“ können ihre sicherste Wirkung auf der Marionettenbühne aus¬
üben. Kürzlich hat ein neues Puppenspielunternehmen (A. R. Meyer in Berlin)
auch versucht, Paul Scheerbart auf die Puppenbühne zu bringen, leider aber
mit bedauerlichem Mißerfolg. Der Dilettantismus der Veranstaltung ließ die
gute Absicht an dem Mangel jeder Vertrautheit mit dem technischen Material
der Puppenbühne scheitern. Auch die Wahl der Stücke war insofern unglück¬
lich, als man Szenen gab, in denen das gesprochene Wort die Herrschaft hat.
Das Wesentliche der Puppenbühne ist aber gerade, daß das Wort, auch das
witzigste, für sich nichts bedeutet, sondern nur Wert hat als Anlaß zu einer
bestimmt charakterisierten Bewegung.
□
Ob das Puppentheater in der heutigen Kultur wieder einen bedeutenderen
Platz gewinnen kann, erscheint allerdings zweifelhaft. Und wenn die Menschen¬
bühne erst das Drama hat, das der Kultur unserer Zeit entspricht, dann hat
das Puppendrama gewiß wieder ausgespielt.
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