II, Theaterstücke 17, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Der tapfere Cassian. Puppenspiel in einem Akt (Generalprobe), Seite 20

17.2. Der tanfere bassian
stätte geschaffenen wunderhübschen
Zuschauerraum hat auch die Bühne
keinen großen Raum. Erwachsene,
wirkliche Menschen bewegen sich dort
nur beengt. Für die Marionetten¬
bühne sind die idealen Dimensionen
gegeben. Man sieht Kunst und Leben
hier wie durch ein verkehrtes Opern¬
glas: verkleinert, aber schärfer. Die
Kostüme der Puppen sind von münch¬
ner Künstlern entzückend verfertigt.
Die Miniaturkulissen von höchstem Reiz.
Es lag nun das Problem vor, ob man
auf dem Kasperletheater auch ernste
Kunstwerke lebendig gestalten könnte.
Nun, Dramen, die für lebende Men¬
schen zugeschnitten sind, lassen sich
nicht in diese Maße zwängen. Hamlet
und Tasso sind nicht am Draht zu
ziehen. Aber es gibt eine Kunstgat¬
tung, die zwischen der Realität und
der spielfreien Phantasie liegt, zwischen
dem Leben und dem Traum. Und
mit ihr läßt sich auf dem Marionetten¬
theater das Wundervollste bewirken.
„Das Wesen der Puppenspiele er¬
möglicht es, daß sich die Phantasie
des Dichters höher als sonst über
die Realität des Lebens schwingt und
anderseits wieder tief unter das Ni¬
veau des wirklichen Lebens sinkt und
derber, deutlicher redet, als es sonst
die Gesetze der Kunst gestatten“ habe
ich an andrer Stelle geschrieben.
Ohne in Wolken zu verschwinden,
aber auch ohne gemein oder banal
zu werden, schaut und schildert der
Marionettendichtermenschliche Leiden¬
schaften aus der Vogelperspektive. Im
Spiel der Puppen darf der Dichter
Wahrheiten sagen, die Essenzen des
wirklichen Lebens sind und lebendigen
Lippen hohl klingen würden. Er darf
übertreiben. Er kann, an die realen
Erscheinungen und Lebenswirkungen
nicht mehr gebunden, sich Wesen
schaffen und sie auf die Bühne stellen,
die so Werke seiner selbst sind,
wie wir wirklichen oder vom Dra¬
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matiker nachgeahmten Menschen Pro¬
dukte einer höchsten unbekannten Kraft
sind. All dieses ist nun Arthur
Schnitzler in seinen meisterhaften
Puppenspielen gelungen, von denen
wir auf der Marionettenbühne eines:
den „Tapfern Cassian“ sahen.
Dieses Spiel handelt im siebzehn¬
ten Jahrhundert, in einer kleinen
deutschen Stadt. Ein junger Stu¬
dent ist im Begriff, seine Geliebte
zu verlassen. Er ist ihrer Reize satt,
er sehnt sich nach dem Zauberleib
der großen Schauspielerin, nach jenem
Irrlicht von Weib, das tausende
Männer behert, Fürsten und Knechten
zur Lust gedient hat und immer noch
mit furchtbarer Macht Männer zu
seiner sündhaften Schönheit lockt. Der
Student hat im Falschspiel die Du¬
katen gesammelt, die er ihr vor die
Füße werfen will, als Preis ihrer
Liebe. Sie will und muß er ge¬
nießen oder sterbend ins Richts ver¬
sinken. Da kommt sein Vetter der
tapfere Cassian auf seine Bude. Der
ist ein echter Maul= und Degenheld
das siebzehnten Jahrhunderts... halb
Held, halb Strauchritter, großmäulig
und tatenprotzig, mit Waffen und
Worten klirrend: der Bramarbas in
Ueberlebensgröße. Ihm gefällt seines
Vetters Mädchen. Und sie fliegt ihm
zu, wie die Motte dem Licht. Aber
Cassian braucht Geld, Cassian ge¬
lüstet es auch nach der Schauspielerin,
von der ihm sein Vetter träumend
erzählt. Sie spielen Würfel. Erst
gewinnt der Student, dann Cassian:
alle, alle die Dukaten, das Reise¬
gepäck, die Getiebte. Der Student
ist alles dessen beraubt, was er hatte.
Nur seine Sehnsucht blieb ihm, und
sie gibt ihm Mut. Er sucht Händel
mit dem Schurken Cassian. Siefechten.
Der Student wird tödlich getroffen.
Cassianpackt seine Geliebte zusammen,
höhnt den Sterbenden: Morgen wird
er die Schauspielerin umfangen. Der
Student bleibt sterbend allein. Sein
Diener bringt ihm die Flöte. Unter
ihren Tönen verhaucht er das Leben ...
Dieses Stück mit seinen krassen
Farben, mit seiner wundervollen Spra¬
che, mit seiner Stimmung ferner
Zeiten, mit seiner in der Tiefe lie¬
genden Psychologie der Liebe, ist
fähig und wert, für sich selbst eine
Marionettenbühne zu schaffen. Mank
ist ergriffen und überwältigt, wenn
man es sieht. Es hat in allem andre
Dimensionen als das wirkliche Lebens¬
drama. Hier ist es robuster, dort
ist es feiner, hier tiefer dort höher.
Manchmal scheint es aus Wolken
herab zu reden, manchmal scheinen
unbekannte Töne aus unserm Selbst
Max Messer
zu dringen.