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behäbigen Schimmel aus dem Wagen gespannt, der die
Künstlerschar, die Requisiten und das Lindesche Ehe¬
paar selbst barg, dann kletterte er auf den breiten
Rücken des geduldigen Vierfüßlers, bewehrte die Rechte
mit einer gewaltigen Glocke und durchzog, unaufhörlich
in bestimmtem Rhythmus klingelnd, die Dorfstraßen.
Die Kinder folgten ihm jubelnd als getreue Trabanten,
die Erwachsenen grüßten ihn schmunzelnd, und von
überallher erscholl der Ruf: „Linde ist da!“
Und kam der Abend, dann hatte Linde regelmäßig
ein ausverkauftes Haus. Ein Haus sogar, in dem
die Großen überwogen. Denn Papa Linde verstand
sich darauf, auch ihnen ein Vergnügen zu bereiten —
ls echter Vertreter des urwüchsigen Berliner Humors.
Er gab Stücke, wie den „Geschundenen Raubritter“,
und er wußte überall an passenden Stellen, das heißt,
wenn der Durst ihn plagte — es kam nicht selten
vor! — seine Puppen den Wunsch nach einem kräftigen
Schluck aussprechen zu lassen. Im Publikum verstand
man ihn: Ein Wink an den Kellner, und wenige
Minuten später wurde eine große Weiße auf die
Bühne gereicht. Dann stockte einen Augenblick die
Vorstellung — eine fette, behaarte Hand langte aus
den Soffiten herunter und verschwand auf demselben
Wege und unter allgemeinen „Prost!“=Rufen. Und
man spielte weiter — bis zu dem schaurigen Ende, da
in Gestalt eines Liderlappens die Haut des Raub¬
ritters präsentiert wurde ...
Lindes Puppen waren steif und unschön und
schlossen sich darin den Dekorationen an. Primitiv
war alles, ohne Prätention — es entsprach dem
Charakter des damaligen Berlin mit seinen ein¬
facheren, noch nicht vom Weltstadtdünkel angekränkelten
Sitten. Und den Unterschied zwischen jenen ent¬
schwundenen Tagen und der Jetztzeit machte die
gestrige Aufführung im Münchener Marionetten¬
theater so recht gegenständlich.
Ein Marionettentheater, an dem Künstler von Ruf
und Namen mitgearbeitet haben, in dem jedes Ding
ein Kunstwerkchen von besonderem Reiz und origineller
Prägung ist. Julius Dietz malte den Vorhang, der,
zögernd, ruckweise sich erhebend, den Blick auf die
Bühne freigibt: Prof. Ignatius Taschner, Prof.
Jakob Bradl und Prof. Josef Wackerle schufen
die Puppen, drei Spannen lange Dinger voll köstlichen
Lebens, Individualitäten jede einzelne, so parador es
klingen mag. Aber es ist doch richtig, denn diese Püpp¬
chen sind ganz und gar charakteristisch durchgebildet —
in den Proportionen des Körpers, in den Händen, vor
allem natürlich in den Gesichtern prägt sich aufs voll¬
tkommenste ein fest konturierter Mensch aus. Die reiz¬
vollen, delikat gemachten Prospekte und Kulissen
steuerte Alois Gruber bei, und zierlich geschnitzte
Möbelchen kommen als passende Ergänzung hinzu.
Wie ernst es der Begründer und Leiter des Theaters,
Schriftsteller Paul Brann mit seiner Sache nimmt,
wird auch dadurch bewiesen, daß man die königl. Por¬
zellanmanufaktur in Nymphenburg mit der Auferti¬
gung einer Rokokosalongarnitur nach Wackerles Ent¬
würfen bemühte.
Die Figürchen sind so fein durchgearbeitet und
werden so geschickt an ihren Zwirnsfäden dirigiert,
daß man oft meint, man sehe wirkliche Akteure.
Namentlich der Titelheld in Artur Schnitzlers
etwas breitem und unklaren¬
tapfere Cassian“ (ein Bramarvas und mues
gloriosus, der das Herz eines Weibchens im Sturm¬
erobert) entzückte durch die Natürlichkeit und die Komik
seiner Bewegungen.
Franz Graf von Poccis Alt=Münchener
Kasperliade „Kasperl als Porträtmaler“
die durchaus in dem bewährten überlieferten Stil ge¬
halten ist, empfing ihr besonderes Kolorit durch einen
stotternden Polizisten. Es war ungemein erheiternd,
zu sehen, wie das Kerlchen mit den possierlichsten
Gesten, mit Fußstampfen und Armschwingen sich be¬
strebte, irgendein schwieriges Wort zu produzieren.
Um die Wiedergabe dieser beiden Stücke machten
sich die bayerische Hosschauspielerin Frau Giesecke¬
[Monnard und die Herren Ludwig Roty=München
und Brann verdient.
Zum Schluß kam Pergolesis anmutige, von
der koketten Grazie des Rokoko gesättigte zweiaktige
komische Oper „La serva padrona“ (Wie die
Zofe Herrin wird). Richard Trunk (München) hat
die Musik eigens für das Marionettentheater in¬
strumentiert, und Frau Sophie Heymann=Engel
und Herr Josef Pirchann (München) führten die
beiden Gesangspartien vortrfflich durch.
Als am Ende der Vorstellung der Beifall ver¬
Kulissen tun und=äll die Niedlichkeiten aus nächster
Nähe bewundern. Sie hielten auch dieser Prüfung
stand die Keinen Künstler, die ihr Direktor ringsum
aufsehäpgt hatte, obwohl sie doch so brav gewesen
R. W.
märey
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Theater=Berichte. 2
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—S
E
Berlin. Im Marionetten=Theater“
Münchener Künstler (Leitung: Paul Brann)
kam man literarisch und ernsthaft und führte Artbur#
Schnitzlers Puppenspiel „Der tapfere Cassian“ auf.
Mit diesem Stück konnten wir uns schon nicht be¬
freunden, als es Reinhardt im Kleinen Theater spielte
Man fragt sich nur zu sehr, welchen Sinn und Ver¬
stand dies Puppenspiel eigentlich habe. Die stilistische
Absicht des Verfassers findet keine klare Linie. Ein
gereifter Jüngling im Mittelalter verläßt seine Ge¬
liebte, um das Liebesglück bei einer schwärmerisch
angebeteten Tänzerin und Buhlerin zu suchen. Ehe
er aber soweit kommt, bringt ihn sein eben zurück¬
gekehrter, freudig bewillkommter Vetter Cassian, ein
Bramarbas und Eisenfresser, von Scherz in groteskem
Spiel zum Ernst übergehend, um Geld und Gut, um
die Liebste und ums — Leben. Die Liebste springt,
da Cassian auch noch an die Tänzerin denkt, aus dem
Fenster, Cassian hinterdrein, fängt sie im Sprunge und
läuft mit ihr davon. Der Sterbende bleibt, den Wechsel
seines jähen Schicksals bejammernd, allein zurück; die
Szene verdunkelt sich in bläuliches Licht, unter schöner
sphärenhafter Musik fällt langsam der Vorhang. Die
Wirkung blieb aus, — vielleicht, weil die Männer et¬
was theatralisch sprachen, vielleicht, weil dies Stück
nicht für die Marionettenbühne taugt, vielleicht weil
es überhaupt so grotesk=unklar ist. Die Liebste fiel
als Sprecherin — aus dem Rahmen. (Soviel ich
weiß: Frl. Maria Weber.) Sie sprach parodistisch=über¬
hohen Tönen, nicht schlecht aber
trieben, mit viel
nicht am Platze. (Während sie dagegen die Gredel in
der „Zaubergeige“ überraschend stilsicher traf: Märchen¬
ton der Kindererzählung, so engelgütig und herzens¬
rein, daß man sich in die Stimme verlieben mußte. #
Ebenso lieblich war die Wirkung ihres Gesanges als
Prinzessin in der „Zaubergeige" und in anderen
Stücken.) — Nach dem „Tapferen Cassian“ kam „La¬
serva padrona“ (Die Zofe als Herrin) von Pergglesi.
Die anmutig holde Musik dieser kleinen Oper fand eine
reizvolle Wiedergabe. Man mußte an Alfred Ferrs
Verse denken:
Und zu einem Augenschmause
Wird ihr Spiel. Der Kenner lacht
Weil man doch im Opernhause
Diese selben Gesten macht.
Mozart selbst ist im Spielplan mit einer sehr nied¬
lichen und musikalisch sauberen Aufführung von „Bastien
und Bastienne“ vertreten, und Offenbach mit einem
sehr hübschen Werkchen „Das Mädchen von Elizondo“
Wir sahen ferner ein Spiel „König Violon und Prin¬
zessin Klarinette“ etwas blutrünstig und äußerlich,
das also ziemlich kalt ließ, ferner vom Grafen Pocci
„Kasperl als Porträtmaler“ ein drastisch=munteres und
lebhaft charakterisiertes Stückchen, endlich die oben schon
erwähnte „Zaubergeige", ebenfalls von Pocci, das
behäbigen Schimmel aus dem Wagen gespannt, der die
Künstlerschar, die Requisiten und das Lindesche Ehe¬
paar selbst barg, dann kletterte er auf den breiten
Rücken des geduldigen Vierfüßlers, bewehrte die Rechte
mit einer gewaltigen Glocke und durchzog, unaufhörlich
in bestimmtem Rhythmus klingelnd, die Dorfstraßen.
Die Kinder folgten ihm jubelnd als getreue Trabanten,
die Erwachsenen grüßten ihn schmunzelnd, und von
überallher erscholl der Ruf: „Linde ist da!“
Und kam der Abend, dann hatte Linde regelmäßig
ein ausverkauftes Haus. Ein Haus sogar, in dem
die Großen überwogen. Denn Papa Linde verstand
sich darauf, auch ihnen ein Vergnügen zu bereiten —
ls echter Vertreter des urwüchsigen Berliner Humors.
Er gab Stücke, wie den „Geschundenen Raubritter“,
und er wußte überall an passenden Stellen, das heißt,
wenn der Durst ihn plagte — es kam nicht selten
vor! — seine Puppen den Wunsch nach einem kräftigen
Schluck aussprechen zu lassen. Im Publikum verstand
man ihn: Ein Wink an den Kellner, und wenige
Minuten später wurde eine große Weiße auf die
Bühne gereicht. Dann stockte einen Augenblick die
Vorstellung — eine fette, behaarte Hand langte aus
den Soffiten herunter und verschwand auf demselben
Wege und unter allgemeinen „Prost!“=Rufen. Und
man spielte weiter — bis zu dem schaurigen Ende, da
in Gestalt eines Liderlappens die Haut des Raub¬
ritters präsentiert wurde ...
Lindes Puppen waren steif und unschön und
schlossen sich darin den Dekorationen an. Primitiv
war alles, ohne Prätention — es entsprach dem
Charakter des damaligen Berlin mit seinen ein¬
facheren, noch nicht vom Weltstadtdünkel angekränkelten
Sitten. Und den Unterschied zwischen jenen ent¬
schwundenen Tagen und der Jetztzeit machte die
gestrige Aufführung im Münchener Marionetten¬
theater so recht gegenständlich.
Ein Marionettentheater, an dem Künstler von Ruf
und Namen mitgearbeitet haben, in dem jedes Ding
ein Kunstwerkchen von besonderem Reiz und origineller
Prägung ist. Julius Dietz malte den Vorhang, der,
zögernd, ruckweise sich erhebend, den Blick auf die
Bühne freigibt: Prof. Ignatius Taschner, Prof.
Jakob Bradl und Prof. Josef Wackerle schufen
die Puppen, drei Spannen lange Dinger voll köstlichen
Lebens, Individualitäten jede einzelne, so parador es
klingen mag. Aber es ist doch richtig, denn diese Püpp¬
chen sind ganz und gar charakteristisch durchgebildet —
in den Proportionen des Körpers, in den Händen, vor
allem natürlich in den Gesichtern prägt sich aufs voll¬
tkommenste ein fest konturierter Mensch aus. Die reiz¬
vollen, delikat gemachten Prospekte und Kulissen
steuerte Alois Gruber bei, und zierlich geschnitzte
Möbelchen kommen als passende Ergänzung hinzu.
Wie ernst es der Begründer und Leiter des Theaters,
Schriftsteller Paul Brann mit seiner Sache nimmt,
wird auch dadurch bewiesen, daß man die königl. Por¬
zellanmanufaktur in Nymphenburg mit der Auferti¬
gung einer Rokokosalongarnitur nach Wackerles Ent¬
würfen bemühte.
Die Figürchen sind so fein durchgearbeitet und
werden so geschickt an ihren Zwirnsfäden dirigiert,
daß man oft meint, man sehe wirkliche Akteure.
Namentlich der Titelheld in Artur Schnitzlers
etwas breitem und unklaren¬
tapfere Cassian“ (ein Bramarvas und mues
gloriosus, der das Herz eines Weibchens im Sturm¬
erobert) entzückte durch die Natürlichkeit und die Komik
seiner Bewegungen.
Franz Graf von Poccis Alt=Münchener
Kasperliade „Kasperl als Porträtmaler“
die durchaus in dem bewährten überlieferten Stil ge¬
halten ist, empfing ihr besonderes Kolorit durch einen
stotternden Polizisten. Es war ungemein erheiternd,
zu sehen, wie das Kerlchen mit den possierlichsten
Gesten, mit Fußstampfen und Armschwingen sich be¬
strebte, irgendein schwieriges Wort zu produzieren.
Um die Wiedergabe dieser beiden Stücke machten
sich die bayerische Hosschauspielerin Frau Giesecke¬
[Monnard und die Herren Ludwig Roty=München
und Brann verdient.
Zum Schluß kam Pergolesis anmutige, von
der koketten Grazie des Rokoko gesättigte zweiaktige
komische Oper „La serva padrona“ (Wie die
Zofe Herrin wird). Richard Trunk (München) hat
die Musik eigens für das Marionettentheater in¬
strumentiert, und Frau Sophie Heymann=Engel
und Herr Josef Pirchann (München) führten die
beiden Gesangspartien vortrfflich durch.
Als am Ende der Vorstellung der Beifall ver¬
Kulissen tun und=äll die Niedlichkeiten aus nächster
Nähe bewundern. Sie hielten auch dieser Prüfung
stand die Keinen Künstler, die ihr Direktor ringsum
aufsehäpgt hatte, obwohl sie doch so brav gewesen
R. W.
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Theater=Berichte. 2
OIS
—S
E
Berlin. Im Marionetten=Theater“
Münchener Künstler (Leitung: Paul Brann)
kam man literarisch und ernsthaft und führte Artbur#
Schnitzlers Puppenspiel „Der tapfere Cassian“ auf.
Mit diesem Stück konnten wir uns schon nicht be¬
freunden, als es Reinhardt im Kleinen Theater spielte
Man fragt sich nur zu sehr, welchen Sinn und Ver¬
stand dies Puppenspiel eigentlich habe. Die stilistische
Absicht des Verfassers findet keine klare Linie. Ein
gereifter Jüngling im Mittelalter verläßt seine Ge¬
liebte, um das Liebesglück bei einer schwärmerisch
angebeteten Tänzerin und Buhlerin zu suchen. Ehe
er aber soweit kommt, bringt ihn sein eben zurück¬
gekehrter, freudig bewillkommter Vetter Cassian, ein
Bramarbas und Eisenfresser, von Scherz in groteskem
Spiel zum Ernst übergehend, um Geld und Gut, um
die Liebste und ums — Leben. Die Liebste springt,
da Cassian auch noch an die Tänzerin denkt, aus dem
Fenster, Cassian hinterdrein, fängt sie im Sprunge und
läuft mit ihr davon. Der Sterbende bleibt, den Wechsel
seines jähen Schicksals bejammernd, allein zurück; die
Szene verdunkelt sich in bläuliches Licht, unter schöner
sphärenhafter Musik fällt langsam der Vorhang. Die
Wirkung blieb aus, — vielleicht, weil die Männer et¬
was theatralisch sprachen, vielleicht, weil dies Stück
nicht für die Marionettenbühne taugt, vielleicht weil
es überhaupt so grotesk=unklar ist. Die Liebste fiel
als Sprecherin — aus dem Rahmen. (Soviel ich
weiß: Frl. Maria Weber.) Sie sprach parodistisch=über¬
hohen Tönen, nicht schlecht aber
trieben, mit viel
nicht am Platze. (Während sie dagegen die Gredel in
der „Zaubergeige“ überraschend stilsicher traf: Märchen¬
ton der Kindererzählung, so engelgütig und herzens¬
rein, daß man sich in die Stimme verlieben mußte. #
Ebenso lieblich war die Wirkung ihres Gesanges als
Prinzessin in der „Zaubergeige" und in anderen
Stücken.) — Nach dem „Tapferen Cassian“ kam „La¬
serva padrona“ (Die Zofe als Herrin) von Pergglesi.
Die anmutig holde Musik dieser kleinen Oper fand eine
reizvolle Wiedergabe. Man mußte an Alfred Ferrs
Verse denken:
Und zu einem Augenschmause
Wird ihr Spiel. Der Kenner lacht
Weil man doch im Opernhause
Diese selben Gesten macht.
Mozart selbst ist im Spielplan mit einer sehr nied¬
lichen und musikalisch sauberen Aufführung von „Bastien
und Bastienne“ vertreten, und Offenbach mit einem
sehr hübschen Werkchen „Das Mädchen von Elizondo“
Wir sahen ferner ein Spiel „König Violon und Prin¬
zessin Klarinette“ etwas blutrünstig und äußerlich,
das also ziemlich kalt ließ, ferner vom Grafen Pocci
„Kasperl als Porträtmaler“ ein drastisch=munteres und
lebhaft charakterisiertes Stückchen, endlich die oben schon
erwähnte „Zaubergeige", ebenfalls von Pocci, das