II, Theaterstücke 17, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 2), Der Puppenspieler. Studie in einem Aufzuge, Seite 91

box 22/6
17.1. Der Puppenspieler

Theater in Berlin von Alfred Kerr
s ist Sommer, da ich dies schreibe. Somit isi meine Sendung:
mich zu erinnern, was vom Winter noch in mir lebt. (Fesi¬
zustellen, was vom Theater über das Theater hinausging.)
Wer in goldnen Tagen der bleichen Tage denkt, sieht
manders, als wer inmitten von Kimmeriern einen Spezialsport
betreibt ... Ein Sommerurteil über die Kunst (gefällt von solchen, die fähig
sind, Wintermenschen zu sein) muß der Vision eines Rentners auf dem Sterbe¬
bett nahekommen, der alles durchlebt hat und von allem durcheinander Ab¬
schied nimmt, über Kreuz: Da wird Michelangelo von einem Vogelruf halb
vernichter. Und ein holder Körper durch den Begriff Beethoven halb entwest.
Ein Kampf. oder eine große Hochzeit?
Es gibt zwei Gattungen vor der Kunsi: Lebensmenschen; denen sie
noch was Holderes ins Leben bringt. Und Kunsimenschen; denen sie nichts
Holdes, sondern Schweres ist. Diese zweiten (und dazu gehör' ich im Winter;
im Sommer nicht) sind die Spezialsportleute; die bisweilen den Anfang der
Kunst vergessen haben. Zu dieser Art gehören die großen Künsiler. Die
meisten daven sind andauernd Wintermenschen. (Nicht jeder andauernde
Wintermensch ist ein großer Künsiler ...)
Gipfel der Erde scheinen mir die wechselnden Sommer= und Winternaturen.
Diese Halben sind die Doppelten: die beim Todeswetter zu sinnen, in der
Duftzeit zu atmen wissen.
Ein Gipfel ist der Juljännerich — möcht' man sprechen.
Kongruenz gibt es aber nicht. In bleichen Läuften ist die Schilderung ver¬
gangenen Atmens überzeugter als in goldner Zeit die Schilderung vergangener
Kunsi
II.
K Ich kann anders nicht zurückdenken als meinem Sommergesetz der Halbie¬
□ rung=Verdoppelung untertan. Etwas Stärkstes bleibt in mir, was sehr tiefe
Kunsi bedeutet: Ibsenvorstellungen bei Brahm. Was tiefe Kunsi bedeutet —
und zugleich doch in mein Atmen langt. Am Ende dieser ganzen Herrlichkeit
lebt es noch. Inmitten des Zaubers bedrängt es mich. In Taumelstimmungen
schwingt es mit. Das ist die schwarze Gloria. Das ist die siille Hand, die
in große Gänge, in schlummerndes Versinken, in jede ehrlich letzte Zwie¬
sprach hineinspensiert und in alle krudelwilde Magie. Dies ist das Eis,
das nach jedem Klettern oben wartet. Keine Bühnenkunst mehr: sondern
eine Lebensangelegenheit ... Im Sommer, wo ich mit Engländern auf
fernen Schiffen im Atlantischen Ozean kreuze, wo ich über die braune Asche
des größten Feuerbergs dieser Erdenwelt hinaufsteige nach Luftvorsprüngen, tief
unter mir Bananenwälder, die brüllendheiße großmütige Flut, ja nach Vor¬
1021
96
9.