II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 119


genden, lebensvollen und geistsprühenden Dichtungen die
Erklügelte Frage, ob das ganze dichterische Schaffen des
Sohnes auch nur eine „lebendige Stunde“ der Mutter
aufzuwiegen vermag. Eine unheilbar erkrankte Mutter hat
sich nämlich mit Morphium vergiftet, um ihren Sohn vom
Anblick ihrer Leiden zu befreien und ihn seinem Dichter¬
beruf wiederzugeben. Das zweite Schauspiel „Die Frau
mit dem Dolche"
wirkt
mehr durch virtuose
äußerliche
Mache und
Effekte,
als
durch
innere Vorzüge und echt dichterische Eigen¬
schaften. Eine junge, hysterische Frau gibt sich mit ihrem
Liebhaber ein Stelldichein in einem Bildermuseum vor
einem italienischen Gemälde aus dem 15. Jahrhundert. Die
hier mit dem Dolche dargestellte Frau hat eine frappante
AAehnlichkeit mit ihr, und je länger sie diese Frau betrachtet,
desto bestimmter wird ihre Ueberzeugung, daß sie die hier
im Bilde dargestellte Szene vor langer, langer Zeit selbst
erlebt hat, und zwar mit demselben jungen Manne, der
ihr jetzt zur Seite sitzt. Die Bühne verdunkelt sich plötz¬
lich, der Vorhang fällt, und als er sich nach einigen Augen¬
blicken wieder hebt, sehen wir dieselbe Frau mit dem
jungen Manne in der Tracht der Renaissancezeit vor uns.
Auf einer Staffelei steht das halb vollendete Bild der
a
Frau mit dem Dolche, von dem Gatten gemalt. Dieser
kehrt von einer Reise nach Florenz heim, die Frau gesteht
ihm, daß sie ihn während seiner Abwesenheit betrogen
habe, und ersticht vor seinen Augen ihren Verführer mit
dem Dolche. Der Gatte, der nur Künstler ist, ergreift so¬
fort den Pinsel und die Palette, um sein Werk nach den
eben gewonnenen blütigen Eindrücken zu vollenden. Die Frau
wendet sich mit Verachtung von ihm, die Bühne verdunkelt
sich abermals und wir werden in das Museum zurückversetzt
wo die aus ihrem Traume erwachende Frau dem Liebhaber
das lange verweigerte Versprechen gibt, ihn Abends besucher
zu wollen. Man weiß nicht recht, was man aus diesem merk
würdigen Capriccio machen soll. Ist es eine neue Variatior
auf das Thema von der Seelenwanderung? Oder von der
sich durch die Jahrhunderte gleich bleibenden Lust an
betrügen des Ewig=Weiblichen? Jedenfalls ist das Stück
ffektvoll und fesselnd. Ungleich höher, dichterisch werth¬
wller ist das dritte Schauspiel: „Die letzten Masken“ zu
Franschlagen. Im Wiener Allgemeinen Krankenhause lieg
&r Journalist Rademacher im Sterben. Der ebenfalls
dem Tode verfallene Schauspieler Jackwerth ist sein
Zimmer=Nachbar. Während der eine weiß, daß sein Ende
bevorsteht und mit dem Leben, das ihm so viele Ent¬
täuschungen brachte, abrechnen möchte, hält sich der andere
für genesen und schmiedet die schönsten Pläne für die Zu¬
kunft. Der Arzt macht seinen Abendbesuch. Rademacher
bittet ihn flehentlich, ihm noch schnell einen heißen Wunsch
zu erfüllen; er möchte seinen Jugendfreund, den Schrift¬
steller Weihgast, noch diesen Abend sprechen, da er ihm
etwas sehr Wichtiges mitzutheilen habe. Der Arzt, der
mit Weihgast befreundet ist, verspricht, ihn zu bringen.
Der Schauspieler fragt neugierig, was Rademacher denn
noch so Eiliges zu beichten habe, und dieser entgegnet: er
wolle sich vor seinem Ende die Genugthuung
verschaffen, dem ehemaligen Freunde, der unverdient
große äußerliche Erfolge im Leben davon getragen
habe, unverblümt zu sagen, daß er ihn stets in seiner
ganzen Hohlheit durchschaut habe, ja daß sich sogar die
eigene Gattin des „großen“ Mannes ingeekelt von ihm
abgewandt und ihre Liebe dem verkannten, vom Schicksal
so arg mitgenommenen Journalisten geschenkt habe. Als
dann aber Weihgast wirklich kommt und mit seiner hohlen
Schönrednerei nichtssagende Redensarten drechselt und
innige Freundschaft heuchelt, da bringt es der Sterbende
#theils vor Ekel, theils aus Mitleid nicht fertig, dem
Lebenden die letzte Maske vom Gesicht zu reißen, und
im Gefühl seiner ganzen Größe und Ueberlegenheit
nimmt der aufgeblasene Dichter von dem sterbenden Jugend¬
freunde Abschied. Es ist eine ungemein feine psychologische
Studie, die Schnitzler hier im engen Rahmen aufrollt, tief¬
gründig und lebenswahr, voll bitterer Satire und nicht
ohne weitere Ausblicke auf die Nichtigkeit alles Irdischen
im Angesicht des Todes und der Ewigkeit. Den Vogel
aber hat der Verfasser mit dem vierten und letzten Stück
abgeschossen, das er bescheiden einen Schwank „Literatur“
nennt und das thatsächlich eine mit glänzendem
Witz, überlegenen Geist und funkelnder Laune geschriebene
Satire auf jene Cafébausliteraten ist, die, an eigenen Ge¬
danken zu arm, ihre kleinen Erlebnisse zu langen Romanen
auszumünzen suchen. Sie entblößen sich und ihre „stili¬
sirten" Leiden und Freuden ohne Bedenken vor der Welt,
nur um sich einmal gedruckt zu sehen. Sie geißelt Schnitzler
sin dieser übermüthigen Komödie, die zu den Lustigsten
und Unterhaltendsten gehört, was man seit lange auf der
deutschen Bühne gesehen hat. Der literarische Fein¬
schmecker kommt hier ebenso auf seine Rechnung, wie der
maive Zuschauer, der nur lachen will. Die Handlung
shier Nebensache, die Behandlung Alles: die prächtige Zeich¬
mung der drei Personen, des kunstfremden, am liebsten
Stallluft athmenden Barons, der schriftstellernden Frau
fmit der Vergangenheit, die sich eine ehrbare Zukunft schaffen
will, und des literarischen Zigeuners, der das Leben in
vollen Zügen genießen will, dazu der vollgefüllte Sack
geistreicher Literaturbosheiten. Alles in Allem: ein sehr
glücklicher Abend, der für viele Fehlschläge dieses Winters
entschädigen konnte!
S# Goldschnon
Bureau für +
+
O7•
Zeitungsausschnitte und Verlag
der Wissenschaftlichen Revue.
BERLIN M., Auguststr. 87 part.
Telephon Amt III, No. 3051.

Ausschnitt
Telegramm-Adresse:
aus
GOLDSCHMIDT.Auguststr. 87.
Magdeburgische Zeitung
03
-7. 1. 02
„Theater und Musik.
„erlin, 5. Januar. Arthur Schnitzler, der
Spötter und Satiriker, der sih
fwiener gesellschaftlichen Eigenthümlichkeiten, der
zuverlässige Keuner und Schilderer gewisser so¬
cialer Zwischenschichten, hat gestern im Deutschen
Theater mit seinen vier Einactern einen starken
und nicht unverdienten Erfolg dasongetragen. Die
vier Stücke haben einen gemeinsamen Namen:
„Lebendige Stunden". Das ist indessen wohl nur
aus theatertechnischen Gründen so gehalten wor¬
den. Im Uebrigen haben die einzelnen Einacter
leinerlei Zusammenhang untereinander. Weitaus
am besten ist unserem Autor die übermüthige Bos¬
heit „Literatur“ gelungen. Eine Frau beichtet ihre
eigene, etwas stürmische Vergangenheit in schrift¬
steilerischer Form. Der närrische Gemahl hält das
Alles für erfunden, wäbrend die Gattin nur ihre
Erlebnisse schildert. Der Gimpel, natürlich ein
Blaublütiger, bleibt aber trotzdem von der Treue
seiner ihm angetrauten Frau überzeugt. Ein bis¬
chen nichtsnutzig ist ja die ganze Geschichte; allein
man kann sich der Komik der witzig erfundenen
Situation nicht verschließen und man muß über
die frivolen Spötter so recht innerlich lachen. Die
Figuren — es sind ihrer drei, nämlich außer dem
Ehepaar noch so ein richtiger Kaffeehausbummler
sind so charakteristisch aufgefaßt und mit weni¬
gen Strichen so sicher wiedergegeben, daß man un¬
willkürlich an gewisse Zeichnungen von Chavarini
erinnert wird. Auf der gleichen Höhe stehen „Die
letzten Masken“. Es sind lauter Todescandidaten,
die im Spital ihre letzten Hüllen abwerfen und
so zu sagen in puris naturalibus, natürlich in der
Trope gesprochen, vor uns dastehen. Alle Selbst¬
täuschung, alle Aufgeblasenheit, alles gemachte
Wesen fällt von diesen Menschen, einem lungen¬
süchtigen Schauspieler, einem zermürbten Jour¬
nalisten, einem zu Ruhm gelangten. Dichter, ab.
Sie stehen Alle in ihrer durchaus nicht einwands¬
freien Menschlichkeit vor uns. Eine bitterböse Sa¬
tire! Aber fein ausgekünstelt und bis in das
kleinste Detail durchgefeilt. So gut wie mit den
genannten Sachen ist es nun leider mit den beiden
anderen, „Lebendige Stunden" und „Die Frau
mit dem Dolche", Herrn Schnitzler nicht geglückt.
Der Pathos ist nun einmal nicht seine Sache. „Die
Frau mit dem Dolche“ trägt die üppig=müden
Züge Hugo v. Hoffmannsthals zur Schau, und
das steht Herrn Schnitzler ganz und gar nicht zu
Gesicht. Er soll da bei dem Geschlechte der Ana¬
tols und Aehnlicher bleiben. Das Deutsche Theater
hatte seine besten Kräfte ins Feld gestellt, um dem
Autor zum Siege zu verhelfen.

S