II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 171

16.1. Lebendige Stunden— Zyklus
„OBSERVER“ Nr. 73
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Ausschnitt aus:
vom 75/7 „01
Feuilleton.
Berliner Theaterbrief.
„Lebendige Stunden“. („Lebendige Stunden" — „Die Frau mit dem
Dolche. — „Die letzten Misen“ — Literatur") Vier Einakter von Arthur
Schnitder (Deutsches Toeater.)
— Ernst v. Wolzogen's „Buntes
Theater“ in der Kövenickerstraße — Des lustgen Ebeminns Glück und Ende.
tto Julius Bierbaum und der Krach des Trianon=Tbeaters.
— „Die Wohlthäter“, Lastsoiel in sum Alten von Adolf L'Arronge.
(Lessina=Theater)
Den „Schleier der Beatrice“ bekommen auch wir Berliner nicht
zu sehen. An solcher Aufgabe erlahmt wie Schlenther's Wagemuth,
der seines früheren Schlachtgenossen Brahm, und man begnügt sich,
weil Schnitzler doch immerhn eine der letzten Säuten der allen
zralistichen Pracht ist mit der Aufführung seiner „Lebendigen
(Stunden“ die er Handvoll erklügelter und mühselig ausgefeilter
Einakier. Aus dem Tode sprießt junges Leben auf. Gerade der Tod
weckt das Leven. Und Tod ist häufig lebendiger als das Leben,
zumal wenn es sich äffish spreizt und in theatralischer Aktionspose
seine Kraft verpulvert Das erste von den vier Stücken, in denen
Schnitzler sein neues Stück gibt, varurt das Thema von der Dame
Stieglitz, die sich erschoß, um ihrem Gatten eine Nerornerregung
und damit schöpferisches Vermogen zu bescheeren. Bei Schnitzer
begeht Mütterchen Selbstmord weil sie weiß, daß ihre langwierige
Krankheit alle Arbeitsfreude des Sohnes gelähmt hat. Aber ich fürchte,
ihr Opfer war umsonst. Dieser molluskenreiche Schwätzer von Sohn
würde selbst durch eine Hekatombe nicht zum Aoler werden. Weiter
als in den „Lebendigen Stunden“, die dem Cyklus seinen Namen
gegeben haben, spannt Schnitzler die Scthwingen in der „Frau
mit dem Dolche". Aber auch hier bleibt das Erlebniß todt;
statt des packenden Wirklichkeitebildes sehen wir eine er¬
zwungene, kalte Künstelei. Wir vermögen nichts gegen unser
Schicksal, so lehrt der Poet. Im dunklen Drange folgen wir unserm
Stein; ob er uns in Sumpfe oder auf gosdene Auen führt, wir wissen
es nicht und können wenig dazuthun. Eine Dame hat sich in der
Gemälbegalerie6 entscheidende Stelldichein mit dem Jüngling
gegeden, an den sie nur neugieriges, flüchtiges Inieresse, keine Liebe
bindet. Gemeinhin benützt man ja Budermuseen nicht zu zärtlichen
Verabredungen, do es dort keine Sicheryeit vor Besuchern und Dienern
mbt Schnitzler braucht inden das Gemälde der Frau mit dem Dolche,
um seine Tie#e zu entwickeln. Die Eyebrecheren sieht träumend in
diesem Bude ihr Schicksal Des berühmten Malers Remigio Frau
schenkie während der Abwesenheit des Gatten einem Fant ihre Gunst,
um ihn am nächsten Morgen zu erdolchen und dem Betrogenen Alles
zu gestehen. Remigio sagte kein Wort, sondern malte nur — malte
die später hochverühmt gewordene Frau mit dem Dolche.
„Ich
komne heut Abend,“ flünert Madame dem überglücklichen Knaben zu,
als sie aus langem Traum erwacht. So klar die Symbolik dieser
Siene ist, so wenig reißt ihre Pantasiefülle hin. Sie fügt sich
zu einem übersinnlich poetischen Spiele, das sich doch nur an
unsern Intelleke wendet, die stillen Gefilde des Gemüthes da¬
gegen nicht berührt Plastischer ringt sich der Grundgedanke
des Dichters in den „Letzten Masken“ durch. Ein armes
Talent will im Allgemeinen Krankenhause zugrunde gehen. Da erfaßt
ihn kurz am Verlöschen das dämonische Begehren, der aufgeblasenen
Tazesgröße soundso, dem ehemaligen Freuade, seine wilde Verachtung
ins Gesicht zu schleudern. Den Hohlkopf im Innersten zu treffen da¬
dnrch daß er ihm von einer verbotenen Liebe erzählte, der seine Frau
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mit der „japanischen Duse“ an ihrer Spitze — sie vermochten die ins
Wanken gerathene Schlochtlinie nicht wieder herzustellen Noch immer
fehlen die pomphaft angekündigten Ueberraschangen, der Ersatz für den
„Lustigen Ehemann“, der vor Jahresfrist die öde Sezessionsschrune am
Alexainderplatze bis auf den letzten Sitz füllte. Und auch der Verfasser
des „Lustigen Ehemannes“, der übrigens Gottfried August Bürger
gar nicht sehr frei benutzt hat. ist mit seinem Trianon=Theater dröhnend
abgefallen. Otto Julius Bierbaum nahm einen abscheulichen Saal,
dessen Fortsetzungen sich unter Stadtbahndögen verkriechen, und machte
aus dem Ganzen einen unheimichen Horst des Pienegeiers.
Wer zärtlich Trianons gedenkt, der galanten, von alten Bäumen
umrauschten, weihergeschmückten Stätte. der vermeide ängstlich, den
Jammerakt zu schauen, weichem Bierbaum einen so lockenden Namen
gab Die Dardielungen machten leider dem Saal alle Ehre. Feine
Lyrik, Sommungszaubereien und Menuetie passen schlecht zum
Knattern und Rollen von Stadtbahnzügen — und doch hätte lieblicher
Musensang das brutale Gersuich der Großstadt vergessen machen.
Otto Julius Bierbaum fand jedoch keinen Diesser Mit Ausnahme
des hübschen, nur allzuviel versprechenden Prologes den Sie neulich
hier abdruckten, erwies sich jede Nummer als Riete. Ein ganz undra¬
matisches, geziertes „Singspielchen“ in drei Aufzügen besiegelte die
Niederlage Man schrie und lachte in das Veregeklingel hinein und
der Backpflaumenmann, der in dem Singspielchen die ausgiebige
Hauptrolle mimte, dürfte Gott dafär danken, daß der weihnachtliche
Massenverbrauch an Aepfeln die Zuhöree daran hinderte, ihn ver¬
schwenderisch mit dieser auf der Bühne sehr unbeliebten Frucht zu
beschenken.
Von wirklichen Novitäten ist, wie gesagt, in Folge des Ueber¬
brettltanmels diesmal kaum etwas zu sehen gewesen. Sogar das
königliche Schauspielhaus, das sonst am Syloesterabend regelmäßig eine
lustige Neuheit herausbringt, griff heuer auf Shakespeare zurück. Blos
im Lessing=Theater gab man sich den Anschein, als lasse man alle
Puppen tanzen. Adolf L'Arronge erschien mit einem Drama „Die
Wohlthäter“, welches uns für neu verkauft wurde, sich jedoch schon im
ersten Akte als ein dünner Aufguß früherer Thee=Ernte des beliebten
Unfors erwies (Nissel's „Wohlthater“, sein Erstling, behandelt
dieselbe Idee.) Die Wohlthäter, das sind Menschen, deren bedauerns¬
werthe Opfer Tag für Tag vorgerechnet bekommen, was sie dem gütigen
Geber Alles verdanken Selbst die Poulards mit Spargel, die der
junge Held fröglich zu Mittag verspeist, sind eine Wohlthat und aus
der Tasche des Sdwiegervaters bezahlt Entsetzlich seufzt und stöhnt
der Heid unterm Jo he. Und keine Aussicht, es abzuschütteln! Glück¬
licherweise hält L'Arronge für so verzweifelte Fälle immer eine Erb¬
schaft, eine Transojalm ne oder ein mit Banknoten bis an den Rand
gefülltes Portefeu lle bereit. In den „Wohlthätern“ war er sogar
ariginell; hier erwischt der Gequälte zwischen dem vierten und fünften
Akte eine anglaublich gut bezahlte Siellung, die es ihm ermöglicht,
seine Drangiliter aus dem Hause zu werfen und sich auf eigene
Kosten in Poulards mi Spargel zu vertiefen Es war ein genußreicher
Abend, aber nur für den, der noch nie etwas von L'Arronge genossen
hat. Zum achtenmale aufgewärmie Ponlards mit Bruchspargel. Die
Poularos: biedermeierisch langwierige Szenenführung mit grausam all¬
töglichem Diasog; der Bruchspargel: L'Arronge'scher gemüthooller
Humor ... Es war kein genußreicher Abend, Sie dürten es mir
glauben.
Richard Nordhausen.