II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 185

16. 1. Lebendige StundenZyklus
Das Literarische
vom:
—1007.
Berlin. In den vier Wochen, die seit meiner letzten
Uebersicht verflossen sind, ist nur ein Ereignis von
einiger Bedeutung vorgefallen: die Aufführung von vier
Einaktern Arthur Schnitzlers, denen er den zusammen¬
fassenden Titel „Lebendige Stunden"“) gegeben
hat. Das Deutsche Theater hatte mit diesem Abend
für 50 Zeitun
einen wider Erwarten starken Erfolg, und es scheint,
100
als wollten sich die vier Stücke auf dem Spielplan
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alten. Schnitzler ist eine eigentümlich zusammengesetzte
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Natur. Er ist in mancher Hinsicht der Gegensatz zu
„ 1000
Gerhart Hauptmann: ihm ist immer das Heraus¬
Im Gegelarbeiten einer Idee, eines Problems, einer These der
lbonnement auf stärkste Antrieb zum Schaffen; die anschauliche Wieder¬
lbonnenten frei
gabe der Wirklichkeit hat für ihn nur als Mittel zum
Zweck Bedeutung. Er will womöglich irgend eine
Der „0
3 „Frage lösen“ worauf Hauptmann niemals ausgeht.
nhaltsangabe Schnitzler würde sich nie mit der peinlich genauen
lätter (Taz Wiedergabe der Wirklichkeit begnügen, er wird aber
vodurch eine 1 auch nie den Fehler begehen, jede zufällige Eigenschaft
jeben des In- des Wirklichkeitsbildes mit in sein Werk hinüber¬
heilungen wer
zunehmen. Er hat seinen letzten Zweck stets fest im
Auge, und sein Stil ist nie breit, sondern im Gegen¬
teil oft ein wenig zu knapp: der Dialog wird nicht
selten zur Disputation. In den „Lebendigen Stunden“
tritt dies alles sehr scharf hervor. Die vier Stücke
stehen nicht zufällig bei einander, sondern werden in
der That durch eine gemeinschaftliche Idee zusammen¬
gehalten, und man könnte sie sehr wohl als eine
Trilogie mit nachfolgendem Satyrspiel auffassen.
Schnitzler stellt zwei Weltanschauungen einander gegen¬
über, die wir kurz als die realistische und die artistische
bezeichnen können: für die realistische bedeutet das Ge¬
nießen des Augenblicks — das Wort in seinem weitesten
Sinne genommen — Leben, für die artistische hat alles
Erlebte keinen Eigenwert, sondern wird Stoff zur Ob¬
jektivierung im künstlerischen Schaffen, und diese
Stunden des Schaffens sind die in Wahrheit lebendigen
Stunden. Es ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich,
welche Anschauung und welchen Typ des Menschen —
denn wir haben hier in der That zwei Typen, vielleicht
sogar die zwei menschlichen Typen — Schnitzler höher
wertet, aber durch die Art der Gegenüberstellung ge¬
winnt man den Eindruck, daß er auf Seiten des
Künstlers steht. Der Ausdruck „lebendige Stunden“
klingt etwas gesucht. Mir scheint der Gedanke nicht
glücklich, diesen Stoff in dramatischer Form zu ver¬
arbeiten, denn es ist mit den Mitteln der Bühne kaum
möglich, die beiden Charaktertypen mit genügender
Deutlichkeit zu entwickeln, zumal im Rahmen eines
Einakters. Das erste Stück der Gruppe heißt „Lebendige
Stunden“ und giebt mit diesem Titel zugleich das
Thema an, das in den anderen beiden durchgeführt und
im letzten persisliert wird. Im ersten stehen sich die
Vertreter der beiden Weltanschauungen ganz schroff und
ohne daß versucht wird, ihnen individuelle Züge zu geben,
gegenüber. Ein Alter und ein Junger. Der Alte hat die
Mutter des Jungen ein ganzes Leben lang geliebt.
Sie haben in innigster Gemeinschaft gelebt. Nun ist
sie tot, und beide sind aufs tiefste erschüttert, aber
doch auf verschiedene Art: dem Alten ist der eigent¬
liche Sinn des Lebens geraubt, der Junge ist nur für
jetzt zu Boden geworfen. Er ist Künstler, und in ge¬
wissem Sinne ist der Tod der Mutter eine Befreiung
für ihn. Jahrelang ist sie von schmerzhaftem, unheil¬
barem Leiden geplagt gewesen, und der Anblick dieser
täglichen Qual hat dem Sohne alle Schaffenskraft
gelähmt: er hat nichts Rechtes mehr zu Stande ge¬
bracht. Das hat die Mutter gefühlt, und, um ihn
wieder sich selbst zurückzugeben, hat sie ihre Leiden
selbst geendet. Der Sohn ahnt nichts davon, dem Freunde
jedoch hat sie es in einem letzten Schreiben mit¬
* Buchausgabe bei S. Fischer, Berlin. 160 S.
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geteilt, mit der Bitte, es den Sohn nie erfahren zu
lassen. Aber dem Alten ist das drängende Bestreben
des Jungen, möglichst bald über die schmerzlichen Ein¬
drücke hinweg wieder zum großen Schaffen zu kommen,
in innerster Seele verhaßt, ihm, der diesen Schmerz
als ein heiliges Gut ansieht, von dem ihm niemand und
nichts etwas nehmen darf. Und in eifersüchtigem Grimme
verrät er das Geheimnis der Toten. Die erste Wirkung ist
niederschmetternd; dann aber rafft sich der Sohn wieder auf:
er versteht den Sinn dieses mütterlichen Opfers, und er
beschließt, im Sinne der Mutter zu handeln .
Das zweite Stück heißt „Die Frau mit der
Dolche“. Hier vereitelt die Bühnen=Form fast die
Absicht des Dichters, die vielen bei der Premiere nicht
klar geworden ist. Schnitzler hat sein Problem hier durch
ein zweites eingeengt, das eigentlich nur dem „Falle“
speziellere Färbung geben sollte, ihn aber schließlich so
gefesselt hat, daß er es mit aller Breite behandelte.
Dieses Problem gehört dem Gebiete der okkulten Wissen¬
schaften an, dem er sich schon einmal in seinem
„Paracelsus“ genähert hatte. Er rührt diesmal an den
Gedanken der Seelenwanderung: es giebt Persönlich¬
keiten, die nach mehreren Jahrhunderten wieder zum
Leben kommen und deren Schicksal dann wieder in den
gleichen Bahnen verläuft. Wir sehen hier das Schicksal
von drei Personen, dessen Anfang wir in einer Art
Traumvision, die uns um drei Jahrhunderte zurück¬
versetzt, miterleben, vollendet vor uns und müssen schließen,
daß sich die Fäden in der Gegenwart in derselben Weise
abspinnen werden wie in der Vergangenheit. Neben
dieses Problem der parallelen Schicksale tritt dann die
Gegenüberstellung der beiden Lebensanschauungen.
Leonhard und Paula treffen in der Bildergalerie vor
einem Renaissance=Bilde „Die Frau mit dem Dolche“
zusammen. Die Gestalt dieser Frau gleicht Paula, und
diese fühlt beim ersten Blick auf dieses Bild, daß hier
mehr als eine Aehnlichkeit, daß eine Identität der Per¬
sonen vorliegt. Kraft dieser geheimnisvollen Er¬
kenntnis sieht sie plötzlich visionär die ganze innere
Geschichte dieses Bildes vor sich, und diese Geschichte
gleicht in ihren Anfängen der ihren: Donna Paola,
die Heldin des Bildes, hatte einen Künstler — Remigio —
zum Gatten, für den, wie für Paulas Gatten, das
Leben nur als Stoff für seine Kunst Wert hat. In
der unbefriedigten Seele Paolas, die an dem Gatten
mit bewundernder Lieve hängt wie Paula an dem
ihren, blüht plötzlich ein wilder Liebesrausch zu einem
schönen Jüngling Lionardo auf, wie in Paula eine
Leidenschaft für ihren jungen Freund Leonhard. Bis
hierher gleichen sich die Schicksale. Was nun aber
Paulas Blick in der Vergangenheit sieht und wir im
Bühnenbilde traumhaft mit erleben, ist für sie noch
Zukunft: wie Paola das heiße Flehen Lionardos er¬
hört hat, wie sie dann aber sofort aus dem Taumel
erwacht ist, wie Lionardo, der jetzt Verschmähte,
grimmig dem heimkehrenden Remigio alles verrät, wie
dieser ihn mit seiner überlegenen Verachtung zu wilden
Todesdrohungen reizt, wie darauf Paola in furcht¬
barer Angst Lionardo den Dolch in die Brust stößt,
und wie dieser grause Vorfall dem Künstler Remigio
nur zur Inspiration für sein Bild wird. Als Paula
aus ihrer Vision erwacht und dem immer mehr drän¬
genden Leonhard ein Stelldichein für die nächste Nacht
verspricht, da sind wir gewiß, wie dieses Schicksal enden
wird ... Wenn also auch die Absicht des Dichters bei
näherem Hinsehen erkennbar ist, so wird doch aus dieser
Skizze bereits das Gekünstelte der Situation klar. Die
Charakteristik der Gestalten ist nur ganz skizzenhaft.
Das dritte Stück, „Die letzten Masken“ ist das
bedeutendste und wirkt künstlerisch verhältnismäßig rein.
Die beiden Weltanschauungen sind hier vertreten durch
zwei Männer, die einst Freunde waren, dann aber, durch
das Leben getrennt, jeder seinen verschiedenen Weg ge¬
gangen sind: beide waren sie Dichter, aber während den
einen der Erfolg gekrönt und zum Epikuräer gemacht
hat, ist der andere arm und unbekannt geblieben und
erwartet jetzt im Spital seine letzte Stunde. Wieder
drängt sich ein zweites Thema vor das eigentliche
Thema. Der Sterbende haßt den berühmten Freund,
und sein einziger Wunsch ist, ihm seinen Haß noch ein¬
mal frei ins Gesicht zu schleudern, ihm zu zeigen, wie
leer in Wahrheit sein Leben gewesen ist und wie
nichtig sein Ruhm. Als der verühmte Mann aber
n