II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 186

Oigenwert, sondern wurd Ston zur Sb
jektivierung im künstlerischen Schaffen, und diese
Stunden des Schaffens sind die in Wahrheit lebendigen
Stunden. Es ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich,
welche Anschauung und welchen Typ des Menschen
denn wir haben hier in der That zwei Typen, vielleicht
sogar die zwei menschlichen Typen — Schnitzler höher
wertet, aber durch die Art der Gegenüberstellung ge¬
winnt man den Eindruck, daß er auf Seiten des
Künstlers steht. Der Ausdruck „lebendige Stunden“
klingt etwas gesucht. Mir scheint der Gedanke nicht
glücklich, diesen Stoff in dramatischer Form zu ver¬
arbeiten, denn es ist mit den Mitteln der Bühne kaum
möglich, die beiden Charaktertypen mit genügender
Deutlichkeit zu entwickeln, zumal im Rahmen eines
Einakters. Das erste Stück der Gruppe heißt „Lebendige
Stunden“ und giebt mit diesem Titel zugleich das
Thema an, das in den anderen beiden durchgeführt und
im letzten persifliert wird. Im ersten stehen sich die
Vertreter der beiden Weltanschauungen ganz schroff und
ohne daß versucht wird, ihnen individuelle Züge zu geben,
gegenüber. Ein Alter und ein Junger. Der Alte hat die
Mutter des Jungen ein ganzes Leben lang geliebt.
Sie haben in innigster Gemeinschaft gelebt. Nun ist
sie tot, und beide sind aufs tiefste erschüttert, aber
doch auf verschiedene Art: dem Alten ist der eigent¬
liche Sinn des Lebens geraubt, der Junge ist nur für
jetzt zu Boden geworfen. Er ist Künstler, und in ge¬
wissem Sinne ist der Tod der Mutter eine Befreiung
für ihn. Jahrelang ist sie von schmerzhaftem, unheil¬
barem Leiden geplagt gewesen, und der Anblick dieser
täglichen Qual hat dem Sohne alle Schaffenskraft
gelähmt: er hat nichts Rechtes mehr zu Stande ge¬
bracht. Das hat die Mutter gefühlt, und, um ihn
wieder sich selbst zurückzugeben, hat sie ihre Leiden
selbst geendet. Der Sohn ahnt nichts davon, dem Freunde
jedoch hat sie es in einem letzten Schreiben mit¬
*) Buchausgabe bei S. Fischer, Berlin. 160 S.
Mtnt ara 34.2.1, Scheterette en 1
kenntnis sieht sie plötzlich visionär die ganze innere
Geschichte dieses Bildes vor sich und diese Geschichte
gleicht in ihren Anfängen der ihren: Donnn Paola,
die Heldin des Bildes, hatte einen Künstler — Remigio —
zum Gatten, für den, wie für Panias Gatten, das
Leben nur als Stoff für seine Kunst Wert hat. In
der unbefriedigten Seele Paolas, die an dem Gatten
mit bewundernder Lieve hängt wie Paula an dem
ihren, blüht plötzlich ein wilder Liebesrausch zu einem
schönen Jüngling Lionardo auf, wie in Paula eine
Leidenschaft für ihren jungen Freund Leonhard. Bis
hierher gleichen sich die Schicksale. Was nun aber
Paulas Blick in der Vergangenheit sieht und wir im
Bühnenbilde traumhaft mit erleben, ist für sie noch
Zukunft: wie Paola das heiße Flehen Lionardos er¬
hört hat, wie sie dann aber sofort aus dem Taumel
erwacht ist,
wie Lionardo, der jetzt Verschmähte,
grimmig dem heimkehrenden Remigio alles verrät, wie
dieser ihn mit seiner überlegenen Verachtung zu wilden
Todesdrohungen reizt, wie darauf Paola in furcht¬
barer Angst Lionardo den Dolch in die Brust stößt,
und wie dieser grause Vorfall dem Künstler Remigio
nur zur Inspiration für sein Bild wird. Als Paula
aus ihrer Vision erwacht und dem immer mehr drän¬
genden Leonhard ein Stelldichein für die nächste Nacht
verspricht, da sind wir gewiß, wie dieses Schicksal enden
wird . . . Wenn also auch die Absicht des Dichters bei
näherem Hinsehen erkennbar ist, so wird doch aus dieser
Skizze bereits das Gekünstelte der Situation klar. Die
Charakteristik der Gestalten ist nur ganz skizzenhaft.
Das dritte Stück, „Die letzten Masken“ ist das
bedeutendste und wirkt künstlerisch verhältnismäßig rein.
Die beiden Weltanschauungen sind hier vertreten durch
zwei Männer, die einst Freunde waren, dann aber, durch
das Leben getrennt, jeder seinen verschiedenen Weg ge¬
gangen sind: beide waren sie Dichter, aber während den
einen der Erfolg gekrönt und zum Epikuräer gemacht
hat, ist der andere arm und unbekannt geblieben und
erwartet jetzt im Spital seine letzte Stunde. Wieder
drängt sich ein zweites Thema vor das eigentliche
Thema. Der Sterbende haßt den berühmten Freund,
und sein einziger Wunsch ist, ihm seinen Haß noch ein¬
mal frei ins Gesicht zu schleudern, ihm zu zeigen, wie
leer in Wahrheit sein Leben gewesen ist und wie
nichtig sein Ruhm. Als der berühmte Mann aber
an das Sterbelager des einstigen Freundes tritt, er¬
kennt der Sterbende, wie nutzlos es wäre, diesen eitlen
und armseligen Menschen in seine Seele blicken zu
lassen. Und er schweigt und stirbt im Gefühl seines
eigenen Seelenreichtums befriedigt. Das Mittel, durch
das Schnitzler den Zuhörer mit der Geschichte des be¬
rühmten Mannes bekannt macht, ist leider nicht ge¬
schickt, wodurch der Eindruck geschwächt wird. Der
Gegensatz zwischen dem genießenden und dem schaffen¬
den Menschen tritt erst zum Schluß deutlich heraus.
Im vierten Stück, „Litteratur“, finden wir statt des
künstlerischen Selbstbekenntnisses die Selbst=Prostitution,
wie sie die Clique der Caféhaus=Litteraten übt. Diese
Menschenklasse wird sehr witzig der korrekten Lebens¬
anschauung eines Aristokraten gegenüvergestellt, der sich
in eine kleine Bohemienne verliebt hat und sie, ohne zu
ahnen, wie sehr sie die in ihrer Lyrik geschilderten Ge¬
fühle und Situationen aus eigener Erfahrung kennt,
zu seiner Frau macht. Der glänzende Dialog und die
Fülle des Witzes sicherten den Erfolg dieses Stückes
und den des Abends.
Ueber die anderen Novitäten des Monats kann ich
mich ganz kurz fassen. Ein „Litterarischer Abend“
des Residenz=Theaters verlief so unglücklich, daß es
unrecht wäre, die dort gegebenen Opuscula noch ein¬
mal aus dem Orkus zu zitieren.
Der Versuch,
Georg Büchners Drama Dantons Tod“ für die
lebendige Bühne zu gewinnen, den die beiden Freien
Volksbühnen mit den Bühnenbearbeitungen
ihrer Regisseure (Friedrich Moest bezw. Alfred
Halm) unternahmen, scheiterte leider an der Unzu¬
länglichkeit der szenischen Mittel, so daß man nicht
mit Sicherheit — wenn auch mit einiger Wahrschein¬
lichkeit — behaupten kann, daß das Drama des ge¬
nialen Jünglings endgiltig in das Gefängnis der
Litteraturgeschichte verwiesen worden ist. Einzelne der
Konventszenen würden wohl durch glänzende Darstellung
und Inszenierung sehr wuchtig wirken, aber die Rhetorik
aus der Zeit des jungen Deutschland können wir heute
nicht mehr als unmittelbaren Gefühlsausdruck em¬
pfinden. — Richard Skowronneks Schauspiel „Das
schwarze Schäflein“ das bereits anläßlich der ham¬
burger Uraufführung besprochen wurde (vgl. Sp. 126),
die letzte Novität des Lessing=Theaters, ist ein Thesen¬
stück, dessen Qualitäten die litterarische Kritik nicht
herausfordern.
Das Gastspiel der Truppe des berühmten Coquelin
des Aelteren am Königlichen Schauspielhaus hat zwar
einige Stücke gebracht, die für uns neu sind, die aber
hier zu besprechen um so weniger Anlaß vorliegt, als
sie längst der Litteraturgeschichte bezw. der französischen
Bühnengeschichte angehören.
Unstat Zieis.