II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 187

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16.1. Lebendige Stunden Zuklug
Erstaufführungen.“
Schnitzler, Arthur, Lebendige Stunden. 4 Einakter. Berlin, 1902.
S. Fischer. (160 S. 8.) J7 2; geb. K 3.
D Annunzio, Gabriele, Die tote Stadt. Eine Tragödie. Deutsch
von Linda von Lützow. Ebda., 1901. (200 S. 8.) „ 2, 50;
geb. = 3, 50.
Inzwischen erschienen die besprochenen Stücke auch im Buch¬
handel, wie oben angegeben.

Südermann, Hermann, Es lebe das Leben. Drama in 5 Akten.
und diesen beiden Gestalten, die so ganz jeder auf eine ein¬
Stuttgart, 1902. Cotta Nachf. (172 S. Gr. 8.) J 3.
zige Eigenschaft gestellt sind, fehlt denn auch das warme
Unter den zahlreichen neuen Stücken, die sich in den
Blut, das sie zu lebendigen Gestalten machen würde. Wir
letzten Wochen dem Urteil des Berliner Publicums unter¬
sind nicht so einfache Wesen und folgen nicht einzig einem
worfen haben, scheinen mir drei von größerer Bedeutung,
Losungswort. In den beiden folgenden Stücken, „Die Frau
drei, man könnte auch sagen sechs, denn das eine,
mit dem Dolche" und „Die letzten Masken“ hat Schnitzler
Schnitzlers „Lebendige Stunden“, ist aus vier selbstän¬
dann dieses Motiv nur noch als Nebenton angeschlagen, so
digen Einactern zusammengesetzt. Die anderen beiden sind
daß man fast Mühe hat, es zu hören. Das eigentliche
Gabriele d'Annunzios Tragödie „Die tote Stadt" und
Thema ist beide Male ein ganz anderes. Im zweiten der
Hermann Sudermanns Drama „Es lebe das Leben“.
mystische Gedanke von der genauen Wiederholung eines
So grundverschieden diese drei Werke sind, und so wenig
Schicksals nach Jahrhunderten, im dritten der schöne Ge¬
verwandte Züge ihre Dichter unter einander haben, so tragen
danke: wie sehr der Wert des Lebens für den zusammen¬
sie doch alle drei ein gemeinsames Kennzeichen: die Herr¬
schrumpft, der im Angesicht des Todes steht. Das erste
schaft des gedanklichen Elementes über das schöpferische.
Motiv läßt sich mit großer Wirkung novellistisch behandeln,
Und wenn man mit diesem Kennzeichen als Maßstab durch
wie eine sehr packende Novelle in dem Bande „Schemen“
die Reihen unserer dramatischen Literatur schritte, so würde
der Engländerin Vernon Lee (Wiener Verlag) beweist. Das
man noch viele ihresgleichen finden und würde erkennen,
zweite ist dramatisch dankbarer und hier schlug auch der
daß hier eine charakteristische Zeiteigenschaft vorliegt. Die
Dichter zum ersten Male menschlich unmittelbar eindrucksvolle
Zahl der Autoren, die aus dem bloßen Gestaltungstriebe
Töne an. Im letzten Stück „Literatur“ hat Schnitzler den
schaffen, der übermächtigen Fülle der Eindrücke Leben gebend,
Stoff parodistisch, als geistreichen Schwank, behandelt, in
ohne eine weitere Absicht als nur um zu schaffen, die Zahl
dem er an die Stelle des Künstlers, der nur Erlebtes ge¬
also der echten Künstler ist im Gebiet des Dramas sehr gering.
staltet, den Kaffeehaus=Literaten setzt, der „Schlüssel“=Romane
Im Roman ist sie übrigens nur um weniges größer. So
und „Schlüssel"=Lyrik auf den Markt wirft und Indiscretion
absolut als Künstler wie etwa Wilhelm Hegeler dem Leben
und dichterische Beichte verwechselt.
gegenüberstehende kenne ich unter der jüngeren Generation
Wie weltenweit ist von diesem Standpunkt Schnitzlers
nur sehr wenige. Die drei Dramatiker also, von deren
der Standpunkt entfernt, von dem aus Gabriele d'An¬
neuen Schöpfungen hier die Rede ist, treten ebenfalls dem
nunzio den Menschen und den Problemen des Lebens
Leben nicht unbefangen gegenüber. Schnitzlers vier Einacter
gegenübertritt. Man mag über diesen Dichter denken, wie
machen sämtlich den Eindruck, als wäre die Idee eher da¬
man will, aber er ist Persönlichkeit genug, um verlangen
gewesen wie die Gestalten, deren natürliches Handeln durch
zu können, daß man ihm auf seinen Standpunkt folgt.
die Rücksicht auf eine allgemeine These immerfort gehemmt
Dieser liegt weit über der Alltäglichkeit, und so ist es er¬
wird. D'Annunzios Menschen zerfließen in Stimmungen
klärlich, daß sich seinem Augé nur die großen allgemeinen
und wort= und bilderreichen Reden, und Sudermanns Men¬
Linien darstellen, daß er nicht die kleinen Züge der Indi¬
schen disputieren oder analysieren in erkältender Weise ihre
vidnen und nicht die kleinen Schicksale kennt, sondern daß
Empfindungen, woraus es denn erklärlich wird, daß ihr
für ihn nur „das“ Schicksal, die große unbekannte Notwendig¬
Handeln uns so wenig natürlich, so sehr ausgeklügelt er¬
keit sichtbar wird, die die Geschichte der Menschen lenkt,
scheint. So gelingt es keinem der drei Dichter, ihre Hörer
gegen die sich der Mensch vergeblich wehrt und vor deren
so weit zu fesseln, daß sie das Schicksal ihrer Gestalten als
Walten die Gesetze und Kategorien unserer Ethik nicht mehr
ein eigenes Erlebnis mit empfinden, und es bedarf des
Stand halten. Und es ist von diesem Standpunkte aus
reflectierenden Verstandes, um die Brücke zu ihnen zu schlagen.
nicht allzuschwer begreiflich, daß sich der dichterischen Phan¬
Dazu kommt, daß sie alle drei sich von vorne herein in
tasie die Gestalten der Antike, zumal die furchtbare Tragik
der Form vergriffen haben, denn für ihre Stoffe war die
des Atreusgeschlechtes, darstellen. Wie die Atriden unter
breite Basis des Romanes und sein weitausladender Aufbau
der Last eines unentrinnbaren Fluches, so stehen auch die
in weit höherem Grade geeignet, als das knappe Gerüst des
vier Personen, zwischen denen sich die Tragödie in der
Dramas. Es bot sich kaum die Möglichkeit, diese Stoffe in
„Toten Stadt“ entwickelt, unter dem Druck eines Schicksals,
schneller Steigerung zum Höhepunkt zu führen, und anderer¬
vor dem es kein Entrinnen giebt. „Looog dulzare ndgar“
seits galt es, die Voraussetzungen breit zu entwickeln, Stim¬
dieser Auruf eröffnet bedeutungsvoll das Buch, denn unter
mungen mit rein subjectiven Mitteln herbeizuführen und
der Herrschaft des mächtigsten der Götter vollzieht sich das
ausklingen zu lassen und Situationen und Charaktere sorg¬
Loos der vier; er lenkt die Herzen Alessandros, des durch
fältig zu motivieren. Nichtsdestoweniger muß man die drei
die Pflicht des Gatten an die blinde dem Tode entgegen¬
Werke als Schöpfungen bezeichnen, die sich nicht leicht ab¬
gehende Anna gebundenen, und Bianca Marias, die Lebens¬
thun lassen, vor denen man Respect haben muß und mit
drang, Schönheit und Jugend gebieterisch zum Vollgenuß
denen die Bekanntschaft lohnt, denn wir sehen in ihnen die
des Daseins hinweisen, in leidenschaftlicher Liebe zu einan¬
Dichter ihr Bestes geben.
der, wie sie sich auch sträuben, er hat auch die brüderliche
Arthur Schnitzler wollte seinen Einacter=Cyklus zuerst
Liebe Leonardos in heimliche Leidenschaft zu der Schwester
nicht „Lebendige Stunden“, sondern, wenn ich recht berichtet
gewandelt. So leben die drei, in banger Furcht ihr Ge¬
bin, „Literaten=Seelen“ nennen. Glücklich wäre auch dieser
heimnis vor einander bewahrend und doch einer dem an¬
Titel nicht gewesen, aber er hätte doch weniger mühsam und
deren vom Gesicht ablesend, daß er etwas verbirgt, in der
dunkel geklungen und hätte das Wesen der vier Einacter
glühend heißen Fieberluft des toten Mykenä, in einer eigen¬
besser bezeichnet. Er wollte nämlich in diesem Cyklus zwei
tümlichen Zwischenwelt, in der die ungewöhnlichsten Phan¬
Menschentypen einander gegenüberstellen: den, welcher alle
tasien Zutritt haben und jeder Stein an den Atriden=Fluch
Erlebnisse rastlos genießt, und den, dessen Phantasie
erinnert. Und dann tritt das Geschick der Atriden gewisser¬
alles subjectiv Erlebte in künstlerischem Schaffen wieder
maßen leibhaftig vor sie hin. Leonardo findet die Grab¬
objectiviert. Und in dem ersten Einacter hat er diese beiden
mäler Agamemnons Klytämnestras, Kassandras und der
Typen auch mit Sauberkeit von anatomischen Präparaten
anderen und von diesem Augenblick ist es, als schreite der
dargestellt. Aber anatomische Präparate haben kein Leben,
Fluch des Eros mit Riesenschritten heran. Es ist bei d'An¬