II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 188

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16. 1. Lebendige Stunden zyklus
scheimlich, dop daese gerer,
Overbeck der von der Verfasserin gestellten Aufgabegerecht werden
kann. Sinn für Aesthetik, Kunst und Schönheit reicht in
hor oin
öne Literatur. — 1. März. —
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nunzio schwer, den dramatischen Fortschritt zu erkennen: die
Grundgedanke, der aber nicht eben klar herauskommt, ist,
„Handlung“ ist bei ihm rein innerlich, und die feine Stei¬
wenn wir dem Titel glauben dürfen, eine tiefernste Mahnung:
gerung der seelischen Entwicklungen wird noch verdeckt durch
„Achtet das Leben als das böchste Gut! Nehmet die Not¬
das tropisch reiche Gewucher des lyrisch=epischen Dialoges,
wendigkeit zu leben d. h. zu wirken, Eure Kräfte zu be¬
der so gerne bei Stimmungen ruhiger Schönheit verweilt
thätigen, die in Euch angelegte Persönlichkeit zu entwickeln
oder augenblickliche Einfälle mit breiter Ausführlichkeit aus¬
als Eure oberste und heiligste Aufgabe, und laßt Euch von
spinnt. Aber beseitigt man diese Auswüchse, so erkennt man
diesem Ziele nicht durch eine Ethik abbringen, die allen
in dieser Tragödie ein ununterbrochenes Vorwärtsschreiten
rostigen Ueberlieferungen eine wichtige Stimme einräumt
von Spannung zu Spannung. Freilich liegt dieser Fort¬
und diesen zu Liebe unter Umständen das Leben aufs Spiel
schritt nicht so sehr in dem gesprochenen Dialog, sondern in
setzt.“ Sudermann greift mit diesem Thema jene Weltan¬
dem gefühlten, den, wie man deutlich empfindet, die Seelen
schauung und jene Cultur, für die das Duell ein unentbehr¬
unmittelbar, gewissermaßen über die Köpfe der Worte hin¬
liches Hilfsmittel bedeutet, in ihren Wurzeln an und giebt
weg, führen und in dem das eigentlich spannende Element
seiner Auffassung gegen das Duell ein tiefes und breites
in der wunderbaren und doch nicht unnatürlichen Spür¬
Fundament. Seine Argumente sind nicht die herkömmlichen,
sinnigkeit der blinden Anna liegt. ... Nach dieser Seite hin
und sie sind das Ergebnis nicht eines oberflächlichen Denkers.
sind die Schönheiten des Werkes einzigartig; es wächst in
Der Specialfall, an dem er sie zur Anschauung bringt, stellt
der That aus ihm eine unwiderstehliche Macht. Die Ge¬
mit ruhiger Objectivität die beiden Weltanschauungen ein¬
staltungskraft d'Annunzios aber ist nicht groß genug, um
ander gegenüber. Da ist eine geistig und sittlich gleich hoch¬
die einzelnen Gestalten des Werkes lebendig und anschaulich
stehende Frau, die sich ihr eigenes Gesetz vorschreibt und
zu machen und unserem Empfinden nahe zu bringen. Mit
die in der harmonischen Bethätigung ihrer Persönlichkeit und
Ausnahme der blinden Anna gewinnen sie kein Leben, son¬
in der Erweckung der großen Seele eines Mannes, den sie
dern bleiben schemenhaft: sie haben etwas von jenen gleißen¬
einst geliebt hat, die ernste Aufgabe ihres Lebens erblickt
den, in schimmernden Goldschmuck gehüllten Königsleichen,
hat. In dieser Lebensanschauung vermag sie ohne Gewissens¬
die Leonardo auffindet und die in Staub vergehen und
bisse daran zu denken, daß für die Welt ihre einstigen Be¬
zerflattern, sobald das Licht des Tages auf sie fällt. Der
ziehungen zu diesem Manne als Ehebruch qualificiert werden.
Wirklichkeit halten sie nicht Stand, sie zerfließen wie Phan¬
Sie urteilt, daß sie ihrem Gatten, den sie mit seinen All¬
tome. Streift der Dichter schon mit dem Motiv der
tagsempfindungen nie verstanden, nichts entzogen hat, denn
Liebe Alessandros und Bianca Marias und in der Hell¬
er hat sich die langen Jahre der Ehe an ihrer Seite stets
sichtigkeit der blinden Anna dicht an die Grenze des Patho¬
glücklich und zufrieden gefühlt und ist von Herzen der Freund
logischen, so ist diese mit der Leidenschaft Leonardos für
des Mannes geworden, der einstmals seine Frau besessen
seine Schwester überschritten und die Verwicklung der Lage,
hat. Um ein solches Verhältnis so zu begreifen, wie es der
die dadurch eintritt und welche die Verstrickung der Schick¬
Dichter begriffen wissen will, hätte es einer sehr eingehenden
sale zur Katastrophe zusammenzieht, vermag uns nicht mit
und subtilen epischen Exposition bedurft, in der wir diese
der Menschheit ganzem Jammer, sondern nur mit Mitleid
drei Menschen in ihrem Werden und Wesen genau hätten
und Grauen zu erfüllen. Eine eigentümliche Mischung von
kennen lernen müssen. Im Drama müssen wir trotz aller
künstlerisch=genialen Elementen, von hysterischer Impotenz,
seiner Bemühungen dem Dichter das Wesentliche einfach con¬
von Affectation und von echtem Empfinden bildet diese
cedieren, ohne daß er uns die Ueberzeugung künstlerich auf¬
Tragödie, zu deren voller Würdigung uns leider das un¬
zudrängen vermag. Die Sphäre, in der sich die Menschen
mittelbare Gefühl für die individuelle Schönheit der Sprache
des Stückes bewegen, ist die des Adels. Es ist selbstver¬
d'Annunzios abgeht und die man nicht leichthin mit ein
ständlich, daß einer Entdeckung des Ehebruchs ein Zweikampf,
paar Schlagworten abthun kann.
bei dem der eine Gegner fallen muß, auf dem Fuße folgen
Auch Hermann Sudermanns Drama „Es lebe das
wird. Sudermann hat sich nun die heikle Aufgabe gestellt,
Leben!“ ist eine Mischung von Mißlungenem und Ge¬
nicht etwa die Widersinnigkeit des Duells in diesem Falle
lungenem, von ehrlichen Gedanken und Empfindungen und
nachzuweisen, sondern mit raffinierten Mitteln einen Fall
von sentimentaler Theatralik, und merkwürdiger Weise be¬
zu construieren, wo für die beiden ein Duell unmöglich und
weist Sudermann, der vorzügliche Kenner der Bühne, in
im Gegenteil die Pflicht zu leben zur Notwendigkeit wird.
diesem Werke, trotzdem es viele theatralisch raffiniert gemachte
Ob ihm diese Construction gelungen ist, darauf kommt es
Scenen enthält, eine auffallende Unkenntnis ihrer Forderungen.
hier weniger an; es genüge festzustellen, daß eben die Durch¬
Er hätte sonst einen Stoff, in dem die subtile Entfaltung
führung des Themas construiert, mit dem Verstande ausge¬
der Vergangenheit eine so bedeutende Rolle spielte und so
rechnet, ergrübelt ist, nicht aber organisch erwächst. Denn
viel auf die psychologische Nüancierung ankam, einen Stoff,
das ist der wesentliche Mangel; hier rächt sich, daß Suder¬
in dem so wenig dramatische Keime lagen, nicht dramatisch
mann einen falschen Ausgangspunkt genommen hat. Daran
bearbeiten können. Aber es mögen ihm wohl im Laufe der
liegt es auch, daß so wenige seiner Gestalten, nämlich nur
Arbeit, die sich sicher über eine Reihe von Jahren erstreckt,
der Ehemann und sein Parteigenosseer prinzliche Cyniker
eine Menge anderer Gedanken in den Weg gekommen sein,
mit seiner nüchternen Skepsis, lebend erausgekommen sind,
unter denen ein Motiv, das Duellmotiv, freilich gebieterisch
während er die anderen verdammt, Leitartikel zu sprechen
auf die Bühne hinzuweisen schien. Ob die Stoffmassen nur
oder psychologische Declamationen zu halten. Wie man sich
noch nicht ihre Gärung vollendet hatten, ob ihre Gestaltung
zu der Lebensanschauung stellen will, deren Vertreterin die
die Kraft des Dichters überhaupt überstieg, ist schwer zu
Heldin des Stückes, Gräfin Beate, ist, das muß natürlich
sagen. Sicher ist, daß das Drama, wie es uns am 1. Feb¬
jedem überlassen bleiben und gehört nicht hierher. Das Be¬
ruar auf der Bühne des Deutschen Theaters entgegentrat,
deutende und Verdienstliche an dem neuen Drama ist, daß
einen unfertigen, uneinheitlichen Eindruck machte, daß neben
es unklar gärende Zeit=Ideen in die richtige Beleuchtung
Scenen von großer Feinheit solche von auffallend schwacher
rückt und mit deutlichen Worten Anschauungen als unver¬
Motivierung, neben dramatisch glänzend durchgeführten Auf¬
einbar gegenüberstellt, über deren Unversöhnbarkeit sich heute
tritten solche von ermüdender Weitschweifigkeit, neben einem
die meisten noch nicht klar sind.
Gustav Zieler.
lebendigen Dialog oft ein ganz papierener stand. Der