II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 211

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16.1. Lebendige Stunden zuklus
Mißfallen der Zuhörer erregte, da begannen diese in Sammt und
nimmt, hat er sich viele Feinde zugezogen. „Die größte Sünde“
Seide gekleideten, wie man so sagt: gebildeten Leute, ihrer Ent¬
selbst ist die, gegen die eigene Ueberzeugung handeln, und der Held
täuschung in brutalen Zwischenrufen, Spott und Gelächter Ausdruck
des Ernstschen Werkes unterliegt im Kampfe gegen dieselbe. Als
zu geben, wozu das dumpfe Rollen der dem Theater gefährlich
Jugendarbeit verdient das Stück des Hamburger Schriftstellers
nahen Stadtbahn die würdige Begleitung bildete. Tags nach der
mehr Beachtung als seine späteren Arbeiten: da nicht nur logische
Première wurde das Trianon=Theater für zwei Wochen geschlossen.
Handlung und konsequente Durchführung derselben das Schauspiel
Und jetzt hat Otto Julius Bierbaum die Direktion niedergelegt
auszeichnen, sondern auch wirkliche Menschen mit festen Konturen
und wird sich wieder auf Verseschmieden beschränken; das Programm
gezeichnet vor uns treten und nicht Karikaturen wie z. B. im
des Trianon=Theaters aber werden nach wie vor „lebende Lieder“
„Flachsmann als Erzieher“
Eduard Höber.
In die Ehren des Abends teilten sich Frl. Santen und Herr
Burgarth.
Frau Agnes Sorma, die ein längeres Gastspiel und bei
Breslauer Theaterbrief.
größtenteils ausverkauftem Hause absolvierte, brachte uns neben
ihren bekannten Paraderollen (?) auch zwei Novitäten mit Frau
(Originalbericht der „Dresdner Kunst= und Theaterzeitung“.)
Sorma; die Virtuosin zerstück#ite nicht nur den großen Seelenmaler
Gleich der Wiener Hofoper erweckte das Stadttheater Offen¬
Ibsen (Nora), sondern auch Altmeister Goethe hielt sie nicht zurück,
bachs „Hoffmanns Erzählungen“ zu neuem Leben und errang
das „schlichte“ Gretchen mit Nuancen und Ueberraschungen aus¬
damit ebenso wie in Wien starken Erfolg. Weder das Alter noch
zustatten. Von allen ihren Rollen gefiel die Giuditta (Zwillings¬
die wirklich miserable Uebersetzung konnten die musikalische Schön¬
schwester) durch ihren graziösen Humor. Und die Novitäten?
heit des Werkes beeinträchtigen. Der Komponist von „Die schöne
Nummer 1. „Der Gießbach“ von Maurice Douay, dem
Helena, Orpheus in der Unterwelt, Angot, Pariser Leben u. s. w.“,
Dichter der „Verliebten“, die seiner Zeit den Namen des Franzosen
in welchen Stücken er durchwegs der leichten, frivolen Operetten¬
bekannt machten. Ein glänzender Durchfall, den nicht einmal das
muse huldigt, hat in „Hoffmanns Erzählungen“ einen vollgiltigen
Spiel der Sorma aufhalten konnte. Die „alte“ Geschichte natür¬
Beweis seiner Begabung für seriöse Musik erbracht. Jahrelang
lich, der Ehebruch, bildet die Handlung und der Gießbach den Ab¬
von der Bühne verbannt (anläßlich des Wiener Ringtheaterbrandes),
schluß derselben, indem die Heldin sich in denselben stürzt und ertrinkt.
wird vielleicht die Oper jetzt ständig im Opernrepertoir verbleiben.
Nummer 2. „Die Kollegin“ von Kasch, ebenfalls, aber etwas
Zu wünschen wäre es wenigstens.
sanfter, abgelehnt. Bis auf den sensationellen Tod, den Frau
Um nun auf die hiesige Aufführung zurückzukommen, war die
Sorma auf der Bühne zu sterben hat, erweckte nichts weiter in
Darstellung im ganzen und großen eine vorzügliche. Herr Würthele
dem Stücke des nicht untalentierten Herrn Kasch Interesse.
(Hoffmann) kann diese Partie, was den Gesang anbelangt, zu
Auch eine neue Operette brachte uns das Lobetheater. „Die
einer seiner besten zählen. Im Spiel jedoch blieb er vieles schuldig.
Landstreicher“ von Kenn und Lindau, Musik von C. M. Ziehrer.
In Frl. Verhune fanden die drei Frauencharaktere eine nicht immer
Von einem Operettentext wird man billigerweise keinen allzugroßen
passende Vertreterin. Am besten gelang ihr die schwindsüchtige
Reichtum an Geist' verlangen, aber immerhin eine zusammen¬
Schöne und hier lohnte sie auch kräftiger Beifall. Die vorzüglichste
hängende Handlung. Diese besitzen die Landstreicher nun eben
Leistung des Abends war die des Herrn Schauer als böser Genius.
nicht; doch ist dies auf das Konto des Zeitmangels, der die
Unheimlich im Aussehen und meisterhaft in der Behandlung des
Dichter nicht zum Nachdenken kommen ließ, zu schreiben. Die
Gesanges war sein Dr. Mirakel. Als Famulus Hoffmanns trat
Operette wurde nämlich in aller Eile schlecht und recht für die
Frau Pfeiffer=Rißmann günstig in die Erscheinung, und in den
Sommerbühne in „Venedig in Wien“ gedichtet und komponiert.
kleineren Rollen seien noch die Herren Waldmann, Martini und
Aus diesem Grunde muß man auch dem Komponisten verzeihen,
Bender erwähnt. Am Dirigentenpulte war Herr Kapellmeister
wenn er in der Geschwindigkeit einmal oder das andere Mal
Trummer mit vielem Geschick thätig.
daneben griff, d. h. sich an den einen oder anderen Vorgänger
Das Lobetheater ist seit meinem letzten Bericht die Stätte
anlehnte. Für die Operette besitzen wir kein eigentliches Ensemble,
verschiedener Erfolge und Durchfälle gewesen. So ging nebst
und hatten die Künstler deshalb einen schweren Stand mit Aus¬
Blumenthals Verslustspiel „Fee Caprice“ ein Stück, dessen Wert
nahme des Hern Marx, der eine prächtige Figur mit seinem Fürsten
schon gelegentlich in diesem Blatte gewürdigt wurde und in Breslau
bot. Sonst wären allenfalls noch die Damen Segall, Zemann
durch die glänzende Wiedergabe der Hauptrollen durch Frl. Illing
und Hesse, die Herren Will, Martini und Wallauer zu nennen.
und Herrn Botz Applaus einheimste, das neueste Schauspiel Otto
In den Balletteinlagen brillierten die Damen Sterna, Harlé und
Ernsts „Die größte Sünde“ in Szene. Durch den Kampf, welchen
das Ballettkorps. Herr Kapellmeister Reichwein dirigierte die Operette
Ernst in seinem Stücke gegen die Kirche und ihre Anhänger auf¬
mit Schwung.
Jünglingsalter, frisch, blühend, doch von über seine Jahre gehendem
zu verstehen und es — mit Ihnen, Fräulein Hella, zu lieben¬
Ernst. In seinen schönen Augen spiegelte sich die Ungeduld der
Jener Brief am Boden, er mag die Ursache des Schmerzes ent¬
Erwartung ab.
halten; was denken Sie, Fräulein Stern, von dem Briefe, was
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Die wenigen Schritte waren gethan; beide standen vor dem
halten Sie
bezeichneten Gemälde.
„Nun, ich denke“ antwortete die Dame etwas kalt auf das
Ein flüchtiges „Ah!“, mehr der Ueberraschung und des Er¬
ungestüme Fragen des Jünglings, „ich denke, es handelt sich um
staunens, kam über seine Lippen.
den nicht seltenen Treubruch eines Mannes!“ Sie blickt dabei
Dann trat eine Pause ein. Feierlich still wie in einem
unverwandt, wie forschend, in das Antlitz des Beschauers, der
Dome ward und blieb es vor dem Kunstwerke.
ungestört mit ihr allein das kleine Zimmer der Galerie inne hatte.
Hella Stern war es, welche die Ruhe unterbrach. Nachlässig,
Die Aufseher bewegten sich in ferneren Sälen, wo mehrere
genz in den Anblick vertieft, lehnte ihre Gestalt an einem Stuhl.
Fremde vor neu angekommenen Bildern standen. Deshalb blieben
„Ist es nicht herrlich?“ flüsterte sie.
die beiden ungestört allein und konnten ohne Zwang ihre Ge¬
„Ich bin noch nicht im klaren betreffs des ersten Eindruckes,
danken austauschen, die gewöhnlich in einer selten anziehenden
Fräulein Hella“ antwortete der junge Mann. „Vielleicht haben
Harmonie übereinstimmten.
Sie mir zu viel von dem Bilde gesagt, um sofort mein ganz
„Wilhelm!“ fuhr die Dame nach kürzerer Pause fort, ihren
eigenes Urteil zu finden. Ich muß gestehen, daß ich nicht recht
Arm in den seinen legend, „können Sie, junger Freund, begreifen,
weiß, was ich aus der bleichen, knieenden Frauengestalt machen
weshalb mir dies Gemälde mit seiner Idee so teuer ist? Ich
soll. Man überlegt sich wohl unwillkürlich, was dieses Weib so
weiß nicht, ob Sie jenen tiefsinnigen Vers Tiedges kennen: Es
schmerzerfüllt, so abgehärmt und elend gemacht haben muß.
ist ein Herz mit seinen Wunden mehr wert, als eins, das niemals
Da — liegt ein erbrochener Brief; dort — hinter ihr hängt ein
litt! — Wäre ich der gottbegnadete Maler dieses Bildes gewesen,
welker Kranz; sie selbst — scheint im Gebet; darauf weist uns
ich hätte an Stelle des „Vater unser“ diesen Vers darunter gesetzt.
ja der Maler durch den Titel seines Gemäldes hin. Die durch¬
Nehmen Sie doch einmal an, es gäbe jemanden, der nicht mehr
sichtigen Linien des Gesichtes verraten zweifellos Seelenschmerz,
beten kann, würde der wohl solch' ein Bild begreifen? Würde
wohl manche Nachtwache. Nicht wahr? — das meinen Sie auch?
er durch seinen Anblick nicht viel eher zum Spott gereizt, gesetzten
Und — o ja, jetzt fange ich vermutlich an, das Bild des Meisters Falls, er selbst trüge ein tiefes Herzeleid in seiner Brust? Ich