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16.1. Lebendige Stunden zyklus
548
III.
Nun die Spannung vorbei, tritt der ethische Teil in Kraft. Ei, legt
Beate los! Geschminkte Poseurworte giebt sie von sich wie ehemals die Magdalene
Schwartze=dall=Orto. Beate ruft: „Sünde? Ich weiß von keiner Sünde.“
Ja, sie habe das Beste gethan, was sie aus ihrer Natur heraus zu thun vermochte.
Das Weib sagt wörtlich: „Ich habe mich von Eurem Sittengesetze nicht zerbrechen
lassen wollen.“ Sie habe das nicht wollen. Und noch Anderes; jedes Wort
eine Uebelkeit. Dann, um den Titel zu rechtfertigen: „Aber dieses elende
Stück“ — nein, das sagt der Zuschauer; sie beendet den Satz: „Aber dieses
elende Stück Leben hab' ich viel, viel zu lieb —“ u. s. w. Es ist schwer, das
Maß der Uebelkeit in Worte zu bringen.
Zum Schluß noch eine Perle. Beate taumelt und fragt, welcher von
beiden sie zur Thür geleiten wolle. Der Mann, ein fluchender Schwerenotsjunker,
sagt majestätisch=düster: „Beate, Du wirst Deinen Weg fortan allein gehen müssen.
Auch diesen.“ Und noch eine Szene.
Die beiden Männer rufen ihren jungen Sohn und Schwiegersohn Norbert,
der grade vorübergeht, in den Salon und machen ihn zum Richter. Sie behaupten,
von einem angenommenen Fall zu sprechen, wie so oft auf dem Theater. Ver¬
schärfung: um ihn zu täuschen, muß ein gemütlicher Ton angeschlagen werden;
„Aber setzt Euch doch, Kinder.“ Diese neue Spannung ruht auf dem Sichzu¬
sammennehmenmüssen. Die neue Erbse wäre das Sichverraten. Hievor soll der
Hörer zittern. Das zweite Erbsensystem tritt im letzten Akt mit Doppelver¬
schärfungen auf; jetzt ist es nur ein Vorspiel.
Also Baron Richard erzählt dem Sohn, die Schuld sei „die schwerste, die
es zwischen zwei Männern geben kann: der eine hat dem andern sein Weib weg¬
genommen“. Der Broschüren=Nori ahnt aber nicht, worum es sich handelt. Ver¬
schärfung: Nori sagt, wieder unbewußt, wieder in Gegenwart des eignen Vaters:
er bezweifle, daß der „Betrüger“ ein Mann von Ehre sei. Kleine Doppelver¬
schärfung: Nori spricht dem eignen Vater ausdrücklich den Tod zu. Sogleich wird
er entlassen, ohne etwas wahrgenommen zu haben. Der Akt schließt mit dem
Ausblick auf — Selbstmord.
IV.
Kehren wir nun, wie der Feuilletonist sagt, zu Baron Richards Ehebruchs¬
rede zurück. Ist sie leidlich abgelaufen?
„Abgelaufen?“ Baron Richard hat einen rednerischen Triumph errungen. Baron
Richard hat „einen rednerischen Triumph errungen, wie er in unsren Parlamenten
selten erlebt worden ist.“ Nori sagt: „Ich habe wohl nie im Leben eine so
schonungslose Brandmarkung des Ehebruchs gehört, wie heute aus dem Munde
meines Vaters.“ Aber der Redner äußert schon düster: „Es ist möglich, daß ich
auf längere Zeit verreisen muß.“
Der Staatssekretär äußert im Gegenteil: „Jedenfalls darfst Du, wenn alles
gut bleibt, den heutigen Tag als Ausgangspunkt eines Weges betrachten, wie er
glänzender von keinem der jetzt Lebenden gemacht werden dürfte.“ Von Keinem.
Der Staatssekretär fügt sogar hinzu: „Einer der es wissen muß, soll vor einer
16.1. Lebendige Stunden zyklus
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III.
Nun die Spannung vorbei, tritt der ethische Teil in Kraft. Ei, legt
Beate los! Geschminkte Poseurworte giebt sie von sich wie ehemals die Magdalene
Schwartze=dall=Orto. Beate ruft: „Sünde? Ich weiß von keiner Sünde.“
Ja, sie habe das Beste gethan, was sie aus ihrer Natur heraus zu thun vermochte.
Das Weib sagt wörtlich: „Ich habe mich von Eurem Sittengesetze nicht zerbrechen
lassen wollen.“ Sie habe das nicht wollen. Und noch Anderes; jedes Wort
eine Uebelkeit. Dann, um den Titel zu rechtfertigen: „Aber dieses elende
Stück“ — nein, das sagt der Zuschauer; sie beendet den Satz: „Aber dieses
elende Stück Leben hab' ich viel, viel zu lieb —“ u. s. w. Es ist schwer, das
Maß der Uebelkeit in Worte zu bringen.
Zum Schluß noch eine Perle. Beate taumelt und fragt, welcher von
beiden sie zur Thür geleiten wolle. Der Mann, ein fluchender Schwerenotsjunker,
sagt majestätisch=düster: „Beate, Du wirst Deinen Weg fortan allein gehen müssen.
Auch diesen.“ Und noch eine Szene.
Die beiden Männer rufen ihren jungen Sohn und Schwiegersohn Norbert,
der grade vorübergeht, in den Salon und machen ihn zum Richter. Sie behaupten,
von einem angenommenen Fall zu sprechen, wie so oft auf dem Theater. Ver¬
schärfung: um ihn zu täuschen, muß ein gemütlicher Ton angeschlagen werden;
„Aber setzt Euch doch, Kinder.“ Diese neue Spannung ruht auf dem Sichzu¬
sammennehmenmüssen. Die neue Erbse wäre das Sichverraten. Hievor soll der
Hörer zittern. Das zweite Erbsensystem tritt im letzten Akt mit Doppelver¬
schärfungen auf; jetzt ist es nur ein Vorspiel.
Also Baron Richard erzählt dem Sohn, die Schuld sei „die schwerste, die
es zwischen zwei Männern geben kann: der eine hat dem andern sein Weib weg¬
genommen“. Der Broschüren=Nori ahnt aber nicht, worum es sich handelt. Ver¬
schärfung: Nori sagt, wieder unbewußt, wieder in Gegenwart des eignen Vaters:
er bezweifle, daß der „Betrüger“ ein Mann von Ehre sei. Kleine Doppelver¬
schärfung: Nori spricht dem eignen Vater ausdrücklich den Tod zu. Sogleich wird
er entlassen, ohne etwas wahrgenommen zu haben. Der Akt schließt mit dem
Ausblick auf — Selbstmord.
IV.
Kehren wir nun, wie der Feuilletonist sagt, zu Baron Richards Ehebruchs¬
rede zurück. Ist sie leidlich abgelaufen?
„Abgelaufen?“ Baron Richard hat einen rednerischen Triumph errungen. Baron
Richard hat „einen rednerischen Triumph errungen, wie er in unsren Parlamenten
selten erlebt worden ist.“ Nori sagt: „Ich habe wohl nie im Leben eine so
schonungslose Brandmarkung des Ehebruchs gehört, wie heute aus dem Munde
meines Vaters.“ Aber der Redner äußert schon düster: „Es ist möglich, daß ich
auf längere Zeit verreisen muß.“
Der Staatssekretär äußert im Gegenteil: „Jedenfalls darfst Du, wenn alles
gut bleibt, den heutigen Tag als Ausgangspunkt eines Weges betrachten, wie er
glänzender von keinem der jetzt Lebenden gemacht werden dürfte.“ Von Keinem.
Der Staatssekretär fügt sogar hinzu: „Einer der es wissen muß, soll vor einer