II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 231

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16.1. Lebendige Stunden zyklus
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Erdengenossenschaft. Als Erscheinungen, die dichten, so wie andere erleben. Man
betrachtet den Teil ihres Erlebens, der sich als Dichten darstellt. Man schreibt,
als Kritiker, eine große Arbeit, deren Helden lauter Dichter sind. (Wären es lauter
Dichter!) Auch das ist ein schöpferisches Werk. Ausdruck, Ordnung, das Erfassen
eines Menschen ist mein. Gewiß zeigt der Kritikus, wie sie „sind“: nach
dem Maßstab Dessen, was kaukasische Völker seit einem gewissen Zeitraum für groß
Doch er zeigt in Einem, wie er vor ihnen ist.
oder stümperhaft erklären.
Er macht was aus ihnen. Robert Schumann sprach von Kritikern, „die sich nicht
einbilden sollten, daß sie die Herrgotts der Künstler, da diese sie doch verhungern
lassen könnten.“ Er meinte die falschen. Ein Zufall ist es, daß wir Euch zum
Gegenstand wählen, Dichter. Wir sind nicht angewiesen darauf. Tretet alle darum
ein in das Werk des Rezensenten, wie in ein Irrenhaus, — wie in ein Menschen¬
haus. Seht die Menschen des Kritikers; seht sie ihre künstlichen Menschlein schaffen.
Seht die Verzerrung, seht die geschwellte Blödheit, seht den versuchten Betrug,
seht das bleiche Unterliegen, seht die Glücklichen, die Schöpfer, — tragisch, noch wenn
sie siegreich sind; seht diese Wenigen, ihr eignes Blut und ihr verströmendes Leben
um kunstschaffene Gebilde verkaufend, um Scheinwesen von ihrer armen Seele
Gnaden, um Puppen, die Vampyre sind. Und wenn ich jetzt noch einen Schritt
weitergehe bin ich in Schnitzlers Einakterwelt. Ich kann zuverlässig den
Abschnitt Nr.
VII
beginnen und auf den Schluß zusteuern. Also: Schnitzlers neue vier Stücke sind
mir weniger als manches Andere des selben Mannes, — dessen latente Herr¬
lichkeit, dessen geistreiche Schwermut, dessen eingeborene Magie, dessen spielende
Sehnsucht, dessen unwägbar holden Reiz und Duft, dessen arrangierenden Zauber,
dessen bewißt wirrsälige Anmut ich mehr geliebt habe, als die meisten dicken
Felle des Zeitalters. Er bleibt der Einzige, auf dessen Dramatik ein Abglanz
von Alfred de Musset ruht. Aber die vier Akte sagen mir nicht viel: weil sie
mehr anekdotisch sind als beseelt.
Sie spinnen einen Faden dieses Dichters fort. Es ist sein bester nicht. Ein
leises Irrspiel zwischen Schein und Sein. Wann gab er das zuletzt? Fragt lieber:
wann gab er das am stärksten? Im Grünen Kakadu. Er hätte dort ein Revo¬
lutionsstück schreiben können. Er schrieb es nicht: der einzige Demokrat, Grasset,
war als ein Schwätzer; das einzige aristokratische Opfer, der Herzog, als holde
Blüte feiner Menschheit dargestellt. Ein Antirerevolutionsstück schrieb er auch nicht.
Er wirbelte nur durcheinander in einer kritischen Zeit: Schein und Sein; Leben und
Spiel. Spielerisch war er nie im Fulda'schen Sinn eines frostigen Tändelns.
Doch erwachsen in alter, weicher Kultur, neigt er zum Arrangieren. Er gab oft nicht
Bilder des Lebens: er gab Vexirbilder. Er nahm eine Kneipenwelt, wo Aristo¬
kraten und Stromer die Rollen tauschen. Ein Komödiant wird Held. Er spielt,
was er noch nicht erlebt hat. Die Mitspieler halten es für Wahrheit, die Zu¬
schauer für Komödie. In einem Augenblick glauben beide Teile an die Wahrheit,
während es Komödie ist. Er leugnet, einen Herzog erstochen zu haben. Alles
schwankt. Sensation: der lebende Herzog tritt ein. Gipfelpunkt: Henri ersticht