II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 232

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16.1. Lebendige Stunden zyklus
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ihn wirklich. Warum, Leser, beschwör' ich diese Erinnerung? Man sieht: wie
das Theatralische hier auf eine seltne Art vertieft ist und beseelt; wie Schnitzler
hier neue Bahnen schuf. Man vergleiche damit den dicken Stumpfsinn des
Sudermann.
Diese Art hätte eine Schnitzlersche Nebenart sein können. (Vielleicht ist
sie es bald.) Ich bedaure, daß er wieder auf sie zurückkommt. Schein
und Sein heißt in den neuen vier Akten: Dichten und Erleben. Es treten
nicht Schauspieler auf, sondern Schriftsteller. Nur in dem dritten („Die
letzten Masken“) wieder ein Schauspieler; doch ein Schriftsteller spielt vor
ihm die Rolle eines Schauspielers! Irrkästen mit doppeltem Boden! Irr¬
spiegel in modernen Gängen! Schein und Sein; Trug und Leben; Spiel und
Wirklichkeit. Was der Mime vom Grünen Kakadu tragierte, war sein Schicksal;
sein wirkliches Leben spiegelte sich in der Komödie. Jetzt, in der „Frau mit
dem Dolche“, spiegelt sich das Leben der Hauptperson in . .. einem Oelbild.
Dort ein Lebensinhalt gemimt, hier gemalt. Der neue Einleitungsakt und der
neue Schlußakt behandeln aber das schriftstellerische Festhalten erlebten Lebens.
Also das Erlebte spiegelt sich in der Dichtung: das erste Mal tragisch, an
dem jungen Mann, der seinen Schmerz um eine verlorne Mutter gestalten
wird; das zweite Mal spaßig, an Liebesleuten, die jeder das Verhältnis in
einem Buch ausschlachten. Immer Spiegelung. Nicht genug, daß in der Frau
mit dem Dolche die Heldin ihr Schicksal in einem Oelbild gespiegelt fand: auch
ihr Gemahl pflegt ihre Schicksale in seinen Dramen zu spiegeln. Ja: auch
der Mann jener nur gemalten Frau spiegelte das Schicksal der Gemalten ..
in diesem Bild. Luft!! Natürlich steht alles in Association: Weil der Schriftsteller
seine Frau dramatisiert, kommt ihr der Gedanke, dort auch gemalt zu sein; zugleich
der andere: jener tote Maler habe seine Frau verwertet. Aber was bedeutet das
alles?
Ich sinde nur etwas sehr Allgemeines darin. Etwa: wie doch die Phantasie im
Leben mitspricht! Das ganze Vexirspiel ist selber eine Spiegelung: von Schnitzlers
Skeptizismus. Es spiegelt den Grundgedanken: was giebt es denn im Leben
Feststehendes! ist nicht alles trügerisch? unter dem Blick zerrinnend? Nichts ist
feststehend und alles zerrinnt! Das ist eine sozusagen erkenntnistheoretische An¬
gelegenheit. Schnitzler verwickelt (oder bereichert?) den Fall, indem er Ethisches
hineinzieht: die dramatisierte Frau ist mißbraucht worden, zum Mittel. Hier
wird Ibsens Epilogdrama berührt; oder die Welt Paul Bourgets, worauf
es gewachsen ist. Tout est matière pour vous! dieser Vorwurf gegen die aus¬
beutenden Künstler, an mehr als einem Seelenmord erörtert, bildet ja den Inhalt
von Bourgets ganzem Lebenswerk.
Die komischen Seiten haben schon die Romantiker dargestellt. Bei Jean
Paul oder Clemens Brentano geschieht Folgendes. Der Poet spiegelt vor, die
Urbilder seiner Romangestalten lebten irgendwo. Er begiebt sich dorthin. Er
unterhält sich mit ihnen von ihrer Verarbeitung. Das ist nicht bloß vexierlich,
sondern voll tiefen Ulks. Und bei Frank Wedekind, einem Nachfahren der Ro¬
mantik, eilt der Poet Meier zu einem dramatisierten Herrn Rappart, macht
ihm Vorwürfe, daß das Stück mit Rapparts Schicksalen durchgefallen ist..
Schnitzler hat nach der tragischen Seite nichts zugefügt; statt der komischen
setzt er die Feinheit. Er biegt und zwängt sogar, der Konstruktion zuliebe.