II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 234

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16.1. Lebendige Stunden— Zyklus
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stände zubilligen. Allerlei Laiensentimentalität hat sich gegen das Urtheil erhitzt
und gesagt, es sei ein Skandal, daß Fischer nicht freigesprochen wurde. Dieser Zorn#
ist ganz unberechtigt. Der Student hat, nach eigenem Geständniß, den Vorsatz ges#
habt, das Mädchen zu töten, und hat diesen Vorsatz ausgeführt. Daß er die That
„in einem Zustand krankhafter Störung" begangen hat, ist anzunehmen. Wird sie
dadurch weniger antisozial? Die Entrüsteten leben noch in den alten Vorstellungen
von Verbrechen und Verbrecher. Fischer hat einen Menschen getötet und mußte des¬
halb für eine Weile wenigstens unschädlich gemacht werden. Auch der entschiedenste
Determinist konnte nicht anders urtheilen. Und ob der Jammerort, wo der arme
Junge fünf Jahre lang eingesperrt wird, Gefängniß oder Irrenhaus heißt, ist im
Grunde höchst gleichgiltig. Ueberlebt der Student dieses Lustrum des Grauens bei
leidlicher Gesundheit, dann war die im Verhältniß zu dem Delikt milde Freiheit¬
strafe für ihn vortheilhafter als die Ueberweisung an eine Heilanstalt. Und wird er
das Opfer einer deutlich sichtbaren Psychose, bann muß er nach § 493 St. P. O. „in
eine von der Strafanstalt getrennte Krankenanstalt gebracht werden.“ Wieder mal
also viel Lärm um nichts. Interessant ist an der Sache nur das alte Bild: genau
der selbe Thatbestand und dennoch ganz verschiedene Urtheile zweier Instanzen.
Darüber hat Hebbel schon das Nöthige gesagt, als er im Neuen Pitaval die Geschichte
vom Magister Tinius gelesen hatte und entsetzt in sein Tagebuch schrieb: „Gott,
Gott, auf welchem Fundament ruht die menschliche Gerechtigkeitpflege!“
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(Lebendige Stunden.
Sola hat vor zweiundzwanzig Jahren einen Artikel geschrieben, dem er den
Sta Titel gab: L’encre et le sang. Eine Polemik gegen Cassagnac, der
gesagt hatte, ein Politiker sei, als Mann der That, doch ein anderer Kerl alss
so ein trauriger Held von Stahlfeder und Tintenfaß. Das war ein Fressen für
den Dichter der Rougon=Macquart, der damals noch nicht ahnte, daß er selbst
eines Tages im zähesten Koth politischer Gassenkämpfe einherstampfen würde.
Mit neidenswerthem Romantikerstolz zog er für die souveraineté des lettres
vom Leder. Wo, rief er, sind heute denn die Reiche Alexanders, Karls, Bonapartes,
wo all die Fabelschätze, mit denen in unruhvoller Geschäftigkeit die Männer
der That den Menschenbesitz gemehrt haben sollen? Rom ist tot, aber Vergil
lebt. Napoleon hat uns in ein Blutmeer geschleppt, Lavoisier die Wurzel
unseres Erkenntnißvermögens befruchtet. Die klug geführte Feder tötet sicherer
als Hieb und Stich; fragt nur Voltaire, Hugo, Paul Louis Courier. Zappelt
Euch nur müde, Ihr Hampelmänner der hohen und höchsten Politik, lächelt,
als „positiv Handelnde“, als Männer praktischen Wirkens, veräi#tlich über
den armen Schächer, der in seiner stillen Stube Nächte lang einsam vor seinem
Tintenfaß sitzt: wer weiß, ob sein Hirn nicht in geräuschloser Arbeit ein Werk
zeugt, das alles Denken revolutioniren, das Antlitz der Welt Euch völlig ver¬
ändern wird? Wir Cerebralmenschen lenken der Völker Sinn, gewähren und