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16.1. Lebendige Stunden zyklug
zu: Das geht gegen den Schwiegervater! Großer Erfolg. Wenn die Frau ihn
morgen betrügt, wird der Meister wieder ein Stück daraus machen, Genre Ehe¬
bruch, und wieder bejubelt werden. Qualis artifex! Und so war es immer. Hjal¬
mar Ekdal wurde nicht erst in der neudeutschen Herrscherzeit des Photographen
geboren. Im Florenz Cosimos findet der von der Reise heimkehrende Maler
Remigio seine Frau im Arm eines schlanken Schülers. Die Ehebrecherin
tötet in brünstiger Wuth den heißen Buhlen, der ihre Sinne überrumpelt hat
und nun den gehaßten Meister mit Schande und Mord bedroht. Und da er die
Rasende im Triumphgefühl ihrer Rache über den zuckenden Leib des hübschen
Knaben gebeugt sieht, hat Remigio nur den einen Wunsch: die Gelegenheit,
die ihm solches Modell schenkt, nicht zu versäumen. Der Schimpf ist ver¬
gessen, kein Gedanke fürchtet die Folgen der blutigen That: nur der Artist
scheint in dem starren Menschenbild noch zu leben ... Herr Schnitzler hat
dieses kurze Drama, das uns aus einer modernen Bildergalerie mit Traum¬
geschwindigkeit ins alte Florenz reißt, „Die Frau mit dem Dolche“ genannt.
Es ist das schwächste der Einakterreihe, deren innere Einheit der Gesammttitel
„Lebendige Stunden“ andeuten soll. Ein tragischer Witz, dessen Haupteffekt längst
nicht mehr neu ist. Schon vor fünfzig Jahren haben Barrière und Thiboust
ihn in den Filles de marbre angewandt und gezeigt, daß den modernsten
Parisern, Moralisten und Dirnen, im Athen der Alexanderzeit Menächmen
zu finden sind. Auch hier aber die selbe Idee wie in dem Gespräch zwischen
Philister und Dichter, das selbe Streben, den Betrachter, diesmal freilich
in anderer Beleuchtung, erkennen zu lassen, wie der Drang gestaltender
Kräfte dem Willen zur That die Flügel lähmt, wie der in der Freude des
Schauens Lebende, nach Befruchtung der Assoziationcentren Lechzende zu ent¬
schlossenem Handeln untüchtig wird. Der Maler, der homme de lettres
sieht in dem leidenschaftlich erregten Weibe nur das Modell, das seiner Kunst
nützen kann, und bedenkt im Hochgefühl seines Schöpferwahns nicht, daß es
die ihm angetraute Frau ist, deren Brunst ihn im Brennpunkt des Willens
traf. Die Sinne fast jedes lange mit Kunstmitteln Arbeitenden verfeinern, ver¬
zärteln sich so, daß ihm nach und nach ein doppeltes Bewußtsein entsteht und
er sich manmal, im heftigsten Affekt sogar, beim Selbstbehorchen ertappt. Er
hört sich leben. Er ist außer sich, möchte vor Wuth aufbrüllen und sänftigt
sich selbst: Pst! Du könntest Kopfschmerzen bekommen und sollst nachher
noch ein Feuilleton schreiben! Er lauscht entzückt dem kosenden Wort eines
Mädchenmundes und unter dem Sitz des erregten Paarungtriebes spricht eine
Stimme: Woher hat sie doch diese Wendung? Von Prévost oder D'Annunzio?
Er greift, um seinen Zorn zu entladen, nach einem Glas und der Komoediant
in ihm flüstert: Wirf lieber das andere, das schon einen Sprung hat, gegen
die Wand! Die alte Anekdote von Talma, der am Sterbebett der Mutter in
tiefster Wesenserschütterung Schrei und Geberde des Entsetzens studirt.
16.1. Lebendige Stunden zyklug
zu: Das geht gegen den Schwiegervater! Großer Erfolg. Wenn die Frau ihn
morgen betrügt, wird der Meister wieder ein Stück daraus machen, Genre Ehe¬
bruch, und wieder bejubelt werden. Qualis artifex! Und so war es immer. Hjal¬
mar Ekdal wurde nicht erst in der neudeutschen Herrscherzeit des Photographen
geboren. Im Florenz Cosimos findet der von der Reise heimkehrende Maler
Remigio seine Frau im Arm eines schlanken Schülers. Die Ehebrecherin
tötet in brünstiger Wuth den heißen Buhlen, der ihre Sinne überrumpelt hat
und nun den gehaßten Meister mit Schande und Mord bedroht. Und da er die
Rasende im Triumphgefühl ihrer Rache über den zuckenden Leib des hübschen
Knaben gebeugt sieht, hat Remigio nur den einen Wunsch: die Gelegenheit,
die ihm solches Modell schenkt, nicht zu versäumen. Der Schimpf ist ver¬
gessen, kein Gedanke fürchtet die Folgen der blutigen That: nur der Artist
scheint in dem starren Menschenbild noch zu leben ... Herr Schnitzler hat
dieses kurze Drama, das uns aus einer modernen Bildergalerie mit Traum¬
geschwindigkeit ins alte Florenz reißt, „Die Frau mit dem Dolche“ genannt.
Es ist das schwächste der Einakterreihe, deren innere Einheit der Gesammttitel
„Lebendige Stunden“ andeuten soll. Ein tragischer Witz, dessen Haupteffekt längst
nicht mehr neu ist. Schon vor fünfzig Jahren haben Barrière und Thiboust
ihn in den Filles de marbre angewandt und gezeigt, daß den modernsten
Parisern, Moralisten und Dirnen, im Athen der Alexanderzeit Menächmen
zu finden sind. Auch hier aber die selbe Idee wie in dem Gespräch zwischen
Philister und Dichter, das selbe Streben, den Betrachter, diesmal freilich
in anderer Beleuchtung, erkennen zu lassen, wie der Drang gestaltender
Kräfte dem Willen zur That die Flügel lähmt, wie der in der Freude des
Schauens Lebende, nach Befruchtung der Assoziationcentren Lechzende zu ent¬
schlossenem Handeln untüchtig wird. Der Maler, der homme de lettres
sieht in dem leidenschaftlich erregten Weibe nur das Modell, das seiner Kunst
nützen kann, und bedenkt im Hochgefühl seines Schöpferwahns nicht, daß es
die ihm angetraute Frau ist, deren Brunst ihn im Brennpunkt des Willens
traf. Die Sinne fast jedes lange mit Kunstmitteln Arbeitenden verfeinern, ver¬
zärteln sich so, daß ihm nach und nach ein doppeltes Bewußtsein entsteht und
er sich manmal, im heftigsten Affekt sogar, beim Selbstbehorchen ertappt. Er
hört sich leben. Er ist außer sich, möchte vor Wuth aufbrüllen und sänftigt
sich selbst: Pst! Du könntest Kopfschmerzen bekommen und sollst nachher
noch ein Feuilleton schreiben! Er lauscht entzückt dem kosenden Wort eines
Mädchenmundes und unter dem Sitz des erregten Paarungtriebes spricht eine
Stimme: Woher hat sie doch diese Wendung? Von Prévost oder D'Annunzio?
Er greift, um seinen Zorn zu entladen, nach einem Glas und der Komoediant
in ihm flüstert: Wirf lieber das andere, das schon einen Sprung hat, gegen
die Wand! Die alte Anekdote von Talma, der am Sterbebett der Mutter in
tiefster Wesenserschütterung Schrei und Geberde des Entsetzens studirt.