II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 238

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16.1. Lebendige Stunden Zuklus
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Journalist fühlt den Tod nahen und hat mit Menschen, die morgen noch leben
müssen, nichts mehr gemein; und: „Nachwelt giebts auch nur für die Lebendigen“.
Des Schauspielers Rath war gut. Es genügt, wenn man die Grobheiten,
die man auf dem Herzen hat, „innerlich sagt". Rademacher braucht nichts mehr,
keinen Freund, keinen Neid, kein Licht; ein paar Bretter nur noch. Und Florian
kann an ihm das Sterben studiren. Die lebendige Stunde, nach der er sich
sehnte, in der er den Willen endlich zur That rüsten wollte, hat dem Zeitungschreiber
nicht getagt. Einmal hat er sich aufgerafft, offen die Wahrheit zu sagen; was
in Fieberträumen als Züchtigung eines Wichtes, als ein gewaltiges Straf¬
gericht gedacht war, wurde eine Theaterprobe im Spital. Rademachers Schicksal
war, bis an den Rand des Grabes sich prostituiren zu müssen.
Nicht Jeder empfindet die Prostitution als Passion. Manon Lescaut
läßt sich vom Eintagsliebsten gern Spitzen, Kleider und Halsketten bezahlen
und würde, lebte sie unter uns, aus ihren Abenteuern mindestens zwanzig
Bände machen. An solchen Exhibitionistinnen ist heutzutage kein Mangel.
Das Genie der Sand stilisirte noch Lust und Leid wechselnder Liebe und
ließ ein feines Ohr höchstens ahnen, wo aus dem Kunstgebild persönliches Erleben
sprach. Darüber sind wir längst hinaus. Rüstige Fräulein stellen die Niederlagen
ihrer Jungferntugend unverhüllt zur Schau, lassen sich, wenn ihrem Schoß ein
„natürliches“ Kindentbunden ward, im Plüngel als moderne Madonnen anbeten,
verhökern die blutigen Bahrtücher ihrer Magdschaft und schleppen, as sie
gestern in schwüler Stunde erlebten, übermorgen schon auf den Büchermarkt.
Eine von Vielen zeigt uns Herr Schnitzler in dem allerliebst frechen Schwank
„Literatur". Frau Margarethe ist ihrem Mann, einem Baumwollfabrikanten,
entlaufen, weil sie von ihm in jedem Sinn, physisch und metaphysisch, un¬
befriedigt war. Zum ersten Tröster kürt sie einen Tenoristen. Von Wien
kommt sie auf dem Venuswagen nach München, geräth unter Literaturzigenner
und leimt ihr beflecktes Leben mit dem eines feisten Empörers zusammen,
der lyrische Gedichte und Slizzen schreibt und bei schwarzem Kaffee der
Menschheit einen neuen Morgen verheißt. Als sie eine Weile mit dem Lümmel
gehaust hat, merkt sie, daß Dichten nicht so schwer sein kann, wie sie früher
dachte. Sie versuchts: und es geht. Viel Erotik, möglichst eindeutig, freie
Rhythmen: Das lernt Jeder und erst recht Jede schnell leisten. Die Briefe an den
Liebsten werden abgeschrieben, seine Worte, das Stammeln seiner erwachten und
ermattenden Gier sorgsam notirt. Gegen unwillkommene Kinder kann man sich
mit dem Komfort der Neuzeit schützen; die poetischen Wehen, die auf jede heiße
Nacht folgen, sind ehrenvoller und bringen Gewinn. Sexualbeichten einer Dame
verkaufen sich immer gut. Ewig aber mag ein hübsches Judäerkind doch nicht
in einem Dachstübchen an der Isar don Launen eines Geniesimulanten leben.
Ein wiener Sportsman befreit die Langende aus der Enge. Feines Verhältniß.