II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 244

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Lebendige Stunden—Zykius
Bühne und Welt.
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zählten Begleitumständen, geradezu abstrus und pfrchologisch ungeheuerlich, wenn auch im Leben,
ich erinnere nur an den Fall Charlotte Stieglitz, noch merkwürdigere Akte weiblicher Selbst¬
opferung aus sozusagen litterarischen Motiven vorgekommen sind. Die Geschichte der Frau
mit dem Dolche, die in den knappen Rahmen eines Einakters eine Craumhandlung und zwei
#reale Scenen fassen will, ist eine zu breit geratene und gesucht pointierte Spielerei. Das Stückchen
schildert, wie eine mit dem Feuer verbotener Liebe spielende Mondaine durch merkwürdige
Aehnlichkeit mit der „Frau mit dem Dolche“ auf dem Gemälde eines unbekannten italienischen
Meisters des 16. Jahrhunderts Seelenwanderungsgelüste verspürt und eines schönen Tages in
der Gemäldegalerie das dreieckige Verhältnis mit seinen möglichen Konsequenzen im Milien und den
Kostümen des Cinquecento im Traum durchlebt. Die These wird innerhalb der in Jamben stilisierten
kraftlosen Traumhandlung demonstriert: Dem großen Ualer ist die lebendige Stunde, die sein
buhlerisches Weib in den Armen des schönen Farbenreibers verbracht hat, der rächende Dolchstoß,
mit dem sie den Verführer in Gegenwart des Gatten zu Boden streckt, nur Stoff zu einem
packenden Gemälde; er sieht nur die malerische Geste, nicht die reale Situation. Läßt uns dieser
Dorgang herzlich kalt, so nehmen die Scenen „Die letzten Masken“ unser volles menschliches
Interesse in Anspruch. Der Dichter führt uns hier in die Atmosphäre des Spitals, wo Freund
Hain die Masken lüftet.] Ein Codeskandidat, der Journalist Rademacher, der trotz Fleiß und
Begabung nichts als Not und Enttäuschungen erlebt hat, will vor seinem Ende einen glück¬
licheren Kollegen und einstigen Freund, einen berühmten Modedichter, sprechen und bestimmt den
jungen Assistenzarzt durch seine herzbewegenden Bitten, noch am selben Abend den Dichter von
seinem Kaffeehaus=Stammtisch zu holen. Der Mann im Schatten will dem Glückspilz auf der
Sonnenseite vor seinem Ende die ganze Wahrheit ins Gesicht schleudern, ihm seine Erbärmlichkeit
und Hohlheit zu Gemüte führen und seinen letzten Crumpf mit dem hohnlachenden Geständnis
ausspielen, daß er, der arme Teufel, die Frau des beneideten Reichen vor Jahren gar oft als
Geliebte in seinen Armen gehalten habe. Einem kleinen schwindsüchtigen Provinzmimen, auch
ein Codeskandidat, aber von unerschütterlichem Optimismus erfüllt, schüttet Rademacher sein
Herz aus. Der lustige Dogel, der, auch im Spital auf der Modelljagd, Freuden und Leiden seiner
Mitmenschen für seine Kunstzwecke dienstbar zu machen weiß, animiert den Journalisten, eine
kleine Generalprobe abzuhalten und ihm, als dem vermeintlichen Gegner, die Standrede zu
halten. Und Rademacher sprudelt alles heraus, was er auf dem Herzen hat. Als endlich der
Erwartete erscheint, gesund, stattlich, elegant, jovial, teilnahmsvoll, bereit, dem alten Freunde
sein Portemonnaie zu öffnen, als er dann von sich selber erzählt, seinen kleinen Enttäuschungen
und Leiden, und das sogen. Glück auch dieses saturierten vermeintlichen homme arrivé sich als
recht fadenscheinig bei Lichte besehen erweist, da spürt der arme Märtprer, daß auch diesen
Dielbeneideten sein letztes Glück und sein letzter Tag erwartet und er nicht den rächenden Richter
zu svielen braucht, und — er schweigt. Der berühmte Mann verabschiedet sich mit aller
Herzlichkeit, und der arme Ceufel stirbt infolge der Aufregung wenige Augenblicke später an
einem Herzschlag. — Charaktere und Milien sind mit packendem Realismus pspchologisch fein
und liebevoll, wie es Schnitzler nur je in seinen besten Stunden gelungen, gezeichnet. Die
Herren Reinhardt, Bassermann und Fischer boten als Journalist, Dichter und Mime Dracht¬
leistungen feinfühliger Verlebendigung charakteristischer Cppen.
Zur Tragikomödie dieses Aktes bildet der den Beschluß des Abends machende Schwank
„Litteratur“ das Satyrspiel. Das künstlerische Problem wird in den Gesprächen und Dor¬
gängen zwischen diesen drei Menschen, dem Baron, Herrenreiter und Lebemann, der doch gegenüber
Dichterinnen à la Marie Madeleine eine sehr feinfühlige Epidermis sich bewahrt hat; der Preciösen
modernsten Schlages, die ihre wirklichen und erträumten Sensationen zu Dersen und Romanen
voll glühender Erotik verdichtet, und dem phlegmatisch=epnischen Bohémien und Kaffeehaus¬
litteraten, der das Gleiche thut, aufs lustigste gewendet und ad absurdum geführt. Das Thema
liegt dem Dichter des „Anatol“, der schönen Sünderinnen nicht gram sein kann und von ihrer
graziösen Frivolität sich lächelnd ein Schnippchen schlagen läßt, vortrefflich.
Das litterarische Stammpublikum des Deutschen Theaters fing jeden neckischen Federball,
den Irene Triesch (die freilich ihre Rolle noch nicht ganze erschöpfte), Bassermann und Rittner
mit sprühender Laune in Gestalt mehr oder minder deutlicher Anspielungen in Worten und Masken
von der Bühne ins Parkett warfen, mit verständnisvoller Heiterkeit auf. Arthur Schnitzler hat
mit diesem gelungenen übermütigen Scherz unsere Litteratur um eine sehr zeitgemäße und geist¬
reiche Litteratur=Komödie bereichert.
Heinrich Stümcke.