II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 250

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16.1. Lebendige Stunden zuklus
Schicksalsminiaturen.
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Wieder ist es eine Sterbestunde, die zur „lebendigen Stunde“ wird. Aber
anders, als wir es bisher erlebten. Ein verlorener Mensch, dem Leben und
Dichten zerrann, den der Daseinskampf aufgerieben in Kleinarbeit und Erniedri¬
gung, liegt im Spital und weiß, er wird das nicht wieder verlassen. Er fühlt,
daß es aus und vorbei ist, und er ist zufrieden. Nur eins quält ihn: er möchte
seinem einstigen Jugendfreund, dem berühmten Erfolgsdichter, der sich auf Schleich¬
wegen Ruhm, Ansehn, Reichtum erworben, der ihn gönnerhaft überlegen vo¬
oben herab angesehen als einen, der den Anschluß verpaßt, als einen Lebens¬
unfähigen, seinen Haß und seine Verachtung ins Gesicht schleudern; er möchte
ihm die selbstgefällige Maske abreißen, ihn vor sich selber entlarven und ihm
zeigen, daß sein ganzer eingebildeter Glanz hohl und nichtig ist. Der andere,
der offenbar nicht ohne Gutmütigkeit, läßt sich bestimmen, an das Sterbebett
des armen Teufels zu kommen. Als er aber nun in seinem satten Wohlwollen,
etwas verlegen und hilflos dasteht, ein paar inhaltlose Trost= und Zuspruchs¬
worte murmelt und dann nicht mehr so recht weiß, was er sagen soll, da stockt
in dem Sterbenden jener leidenschaftliche Haß und jener inbrünstige Wunsch.
Im Schatten des Todes wächst er zu einer Ueberlegenheit, die er nie in seinem
zertretenen Leben gehabt hat; der andere erscheint ihm nun so klein, so fern.
Was lohnt es, an den noch ein Wort zu verschwenden, was lohnt es, zu hassen
und wütend zu schrein? Er fühlt sich jenseits all dieses menschlichen Zankens und
Streitens. Ja, der andere thut ihm fast leid, der seine Maskeun weiter tragen
muß, während hinter ihm bald alles im wesenlosen Scheine liegen wird: „Was
hab' ich mit ihm zu schaffen? Was geht mich sein Glück, was gehn mich seine
Sorgen an? Was haben wir zwei miteinander zu reden gehabt? He! Was
Was hat unsereiner mit den Leuten zu schaffen, die morgen noch auf der Welt
sein werden?“
Die „lebendige Stunde“ erlebt auch dieses Stiefkind, dessen Dasein immer
tot und leer gewesen, der nichts geschaffen, jetzt im Tode, da er zum erstenmal über
der Enge steht, da er von eigensüchtigen Empfindungen erlöst, mit weiteren Augen,
zum erstenmal nicht ein Beteiligter, sondern ein Betrachter, den Dingen ins
Antlitz schaut.
Den drei ernsten Zwischenspielen folgt ein Satyrspiel: „Litteratur". Die
Idee, die in den Einaktern frei variierend gespiegelt wurde, daß für den Künstler
Leben und Tod aus der Sphäre eigen=engpersönlicher Erfahrung sich lösen und
ihre Freuden und Schmerzen ihnen zum Drange werden, zu gestalten, in Gebilde
umzusetzen, diese Idee wird zum Schluß im Hohlspiegel der Karikatur gezeigt.
In glänzend gelungener Zeichnung — Scherz, Satire, Ironie und tiefere
Bedeutung vollendet in eins — stellt Schnitzler moderne Homunculi der Litteratur
hin, jene Kaffeehausdichter und =Dichterinnen, die ihre wertlose Kleinexistenz
stenographisch vervielfältigen, die ihre „Regungen“ mit dem Bleistift kontrolieren
und notieren, die ihre Leidenschaften sich anlesen und ihre Abenteuer ausschlachten,
nicht aus zur Befreiung drängendem Künstlertum, sondern aus Litteraturfexerei.
Sehr witzig, eine moderne Paraphrase von Gottfried Kellers köstlichen „Mi߬
brauchten Liebesbriefen“, ist's, wie der „geniale Mann“ und das „geniale Weib“
sorgsam praktisch ihren Briefwechsel sich heimlich voreinander zu späterer Ver¬
wendung kopieren, und zu ihrer peinlichen Ueberraschung in seinem großen „Lebens¬
roman“ dann dieselben Briefe stehen, wie in dem ihren.
Paracelsus hat hier seinen faltigen Phild¬
sophermante1, in den sein Schritt nanchal
unsicher ging, abgeworfen und steht verwan¬
delt in leichter Annut da. Er jongliert mit
en farbigen Bällen des Einfalls lachend
berlegen, er Floryettiert spielend sicher
nit blitzenden Stössen und, wie Rostands
Cyrano auf der Sonettmensur, kann er spöt¬
isch-sigghaft sagenz !Und bein letzten
rse stechlich.
Felix Penpenberg.
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