II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 296

16.1. Lebendige Stunden zukius
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Ganzen, vermag ein Maestoso oder ein Scherzo wobl# spüren, die uns elend oder glücklich oder frei machen: die
zu wirken, ja binzureißen. Allein nur Derjenige
lebendigen Stunden. Und als zweites Hauptthema klingt kommen, und sagt Leonhard ihren Besuch zu. Der
kann im tiefsten Herzen ergriffen sein, der das gesammte
die uralte Melodei mit, daß ja doch nur der Künstler im
Mann macht aus ihren Schmerzen ein neues Stück, hol's
Werk kennt, vom ersten Motiv an, durch alle Wandlungen
schönen Sinne Mensch ist, weil nur in seiner Seele Alles
der Teufel, soll der aus einer lebendigen Stunde ein neues
und Umkebrungen bis zum Finale. Ich weiß nicht, ob
Resonnanz hat, Wirklichkeit und Divination, Güte und
Bild machen. Dritter Satz: „Die letzten Masken.“ Rade¬
Schnitzler musikalisch ist, aber er hat sein ideelles Thema
Grausamkeit, jauchzender Ueberschwang und todttrauriges
macher, ein obskurer Journalist, liegt im Spital, eine Stunde
durchgeführt, wie ein formgerechter Komponist sein melodi¬
Leid: die ganze Welt und noch ein bischen mehr. Die
vor dem Sterben. Er läßt sich Weihgast, den berühmten
sches Thema durchführt, Ecksätze und Durchführungstheil
Nebenmotive sind von solcher Eigenart, daß sie Einen fast
Dichter, herbeirufen, um ihm all seinen Haß ins Gesicht
und Abschluß, immer ein neues Gewand und immer der
die Hauptsache vergessen lassen, und sie sind so kräftig in zu schleudern: ich war immer ich, Du nie etwas anderes,
leitende Gedanke derselbe; Selbstständigkeit im Einzelnen,
die Geigen gelegt, daß ein Ungeübter die schöne Arbeit im
als der Windbeutel, der sich von der Mode tragen ließ, Du
wo doch nur das Ganze als Einheit genommen, eine
Kontrapunkte leicht überhören kann.
hast das Glück erschlichen, aber ich verachte Dich, und Dein
Variation vorhanden ist, Abwechslung im Gleichen,
angebetetes Weib thut das auch, hundertmal habe ich es er¬
Die vier Sätze dieser Sonate in dramatischer Form
Uebereinstimmung in der Verschiedenheit: „Was ist denn
fahren, ich, ihr vieljähriger Geliebter. So will er ihn nieder¬
heißen: „Lebendige Stunden“ — eine Mutter, die hilflos
Deine ganze Schreiberei,“ sagt im ersten Stücke Haus¬
schmettern, ehe er hinübergeht. Und Weihgast kommt und
dahinsiecht, erkennt, daß die ewige Sorge um sie den Sohn
dorfer zum jungen Dichter Heinrich, „und wenn Du
redet in seiner harmlosen Hohlheit, und den Sterbenden
im dichterischen Schaffen hindert; sie nimmt wie zufällig
das größte Genie bist, was ist sie denn gegen so
faßt der Ekel: steht es dafür, jetzt noch mit ihm zu
ein wenig mehr Tropfen und stirbt. Der alte Herzensfreund
eine Stunde, so eine lebendige Stunde, in der Deine und Seelentröster sagt dem Sohne, was geschah und warum
rechten. „Was hat unsereiner mit den Leuten zu schaffen,
Mutter hier auf dem Lehnstuhl gesessen ist und zuses geschah. Und dieser, ein guter Bursch, aber brutal im
die morgen noch auf der Welt sein werden?“ Und so ver¬
uns geredet hat oder auch geschwiegen — aber da
scheidet er stille: warum die letzten Masken wegnehmen?
Gefühl des wieder schaffensfreien Künstlers, antwortet, schon
ist sie gewesen — da! Und sie hat gelebt, gelebt! Heinrich
Schluß: „Literatur.“ Eine muntere Geschichte. Clemens
an künftige Werke denkend: „Sie haben den ganzen Sinn
antwortel: „Lebendige Stunden? Sie leben doch nicht
ist ein Esel, reich, Sportsman, will von Kunst nichts
rieses freiwilligen Opfertodes zerstört ... Ihr Schmerz
länger, als der Letzte, der sich ihrer erinnert. Es ist nicht
wissen und wird Margarethe heiraten. Die kommt aber
gibt Ihnen heute noch das Recht, mich mißzuverstehen,
der schlechteste Beruf, solchen Stunden Dauer zu ver¬
aus der Bohème her und brachte es nicht über sich,
im Frühjahr, wenn Ihr Garten aufs Neue blüht,
leiben über ihre Zeit hinaus.“ Und dann im letzten Stücke
wenigstens zum Abschied den Niederschlag ibres beimlichen
sprechen wir uns wieder, denn auch sie leben weiter.“ —
„Literatur“, dem ans Ende gestellten Scherzo, hat Mar¬
Verhältnisses zum Schriftsteller Gilbert künstlerisch zu
Zweiter Satz: „Die Frau mit dem Dolche.“ In einer
garethe all ihre Erlebnisse in einen Roman zusammen=] Galerie treffen sie sich, vor dem alten Gemälde einer
fassen. Ein Dokument des Lebens: alle Liebesbriefe von
gefaßt, heimlich, wider den Beschluß des Geliebten, weil
ihm und ihr sind darin enthalten. Nun hat der Poet dus¬
Dame, die ihren Buhlen eben erstochen hat. Leonhard
sie so mußte, und sie wirft ihn doch ins Feuer, als
selbe gethan, auch eine Konfession abgelegt und auch alle
liebt sie, wie nur ein Maler liebt, mit allen Sinnen,
es die Gegenwart, die lebendige Stunde erfordert — dort
Liebesbriefe aufgenommen. Diese Uebereinstimmung müßte
selbst mit den Augen. Pauline, ihrem Manne zugethan,
ist das Gefühl der Kunst, hier ist das Gefühl des
selbst den Blinden sehend machen. Und so schlendert sie
und doch wie tanmelnd von solchem verzehrenden Ver¬
Seins stärker und eigentlich ist's doch das
ihr Exemplar ins Feuer und kann ruhig die Frau des
langen des Künstlers widerstrebt. Angesichts des Bildes
gleiche — wir spielen mit dem Leben, das Leben
Rennpferdschwärmers werden. Ruhig — bis zur nächst¬
hat sie eine Vision: wie sie denn doch nachgibt und dann
lebendigen Stunde, die ja nicht ausbleiben wird. Die
spielt mit uns, von Bedeutung sind nur jene verzweifelt ihre Schuld gesteht und am Verführer
wenigen Zeitspannen, die dies schlummernde Gute oder Rache nimmt, ihn für das Dämonische strafend,
Klarinetten schrillen, die Fagotte quietschen, die Kontra¬
bässe surren — ein lustiger Ausklang.
Schlechte in uns auslösen, die uns über uns selbst hinaus=, das nicht so sehr in ihm, als in ihr selbst war.
Haus Koppel.
heben, Kräfte in uns erregen, deren Walten wir sonst nicht Und sie erschauert: was kommen muß, soll