II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 349

16.1 Lebendige Stunden zykius
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Wiener „Bühne und Welt“ Ho. 9.
Wien, Ende Mai.
ir stehen neuerdings unter dem Zeichen des Berliner „Deutschen Theaters“, das
K auf den Brettern der alten Leopoldstädter Possenbühne seine soliden Zelte aufgeschlagen
# hat. Wieder giebt es mancherlei zu lernen. Wieder dringt die Mahnung an das un
willige Ohr unserer Schauspieler:
Seid einig, einig, einig, ihr alle, die ihr dem Bühnengelichter angehört, seid brüderlich 7
und ohne Eifersucht, seid einfältig (im besten Sinne) und bescheiden, auf daß der Dichter, dem
ihr zu dienen die Ehre habt, nicht Schaden leide durch eueren Wettstreit. Die Individualität und
Geltung des Schauspieler=Individuums, sein Hochgefühl zumal, ist eine Privatsache, die er daheim
wohl kämmen und bürsten, aber ja nicht vor der erleuchteten Rampe spazieren führen darf.
Was geht es im Grunde den Dichter oder das Publikum an, daß der Komödiant Mar ein
indiriduelleres Individuum ist als der Komödiant Moritz, der neben ihm auf der Scene steht?
Individualität ist Relativität; Relativität aber, die sich störend bläht, ist vom Uebel und darum
ästhetische Sünde. Das Gefühl der Relativität, wenn man so sagen darf, ist in der Brust des
Zuschauers nicht aufkommen zu lassen. Wer gepackt werden will, muß vor allem die Ueber¬
zeugung gewinnen, daß er dem Absoluten gegenüber steht. Wer nicht die Empfindung empfängt.
daß all dies, was ihm vor die Sinne gerückt wird, so sein muß, wie es ist, und gar nicht anders
sein kann, soll. darf, wie es ist der kann auch kein Gläubiger sein und wird alsbald von
Zweifeln oder von den Klöhen jener kitzelnden Mißmut, die in den Theaterfanteuils zu Hause
ist, gezwickt und gezwackt werden. Wie aber ist das Gefühl des Absoluten einzupflanzen, das
Gefühl, daß man absoluten Leistungen gegenübersteht oder sitzt, die nicht anders sein können,
sollen, dürfen, als sie sind? Das Gefühl des Absoluten (wenn schon dieser unbestimmte Cerminus
riskiert werden darf) wird einge flanzt, indem man alles vermeidet, was zu Vergleichungen.
gegenseitigen Abwägungen um Abschätzungen herausfordern könnte. #aß die Relativität des
keistungen auf der Bühne nicht aufkommen, ersticken im Herzen des Zuschauers die Möglichkeit
der Empfindung, daß Mar besser ist als Moritz oder das Moritz die Maxrolle viel besser als
Mar und etwa so trefflich wie Mar die Moritzrolle sprechen könnte. Gelingt Dir dies, dann hast
Du das dramaturgische Geheimmts der feenischen Ausgeglichenheit und ihrer kalmierenden
Wirkung erlauscht und kannst schon mit zwei oder drei Schauspielern, die Du agieren läßt, eine
Art „Massenwirkung“ im kleinen erzielen. „Massenwirkung im kleinen!“ Der Eindruck, den Du¬
von einer gutgeschulten Masse empfängst, ist steis ein potenzierter; sie erregt, auch dann, wenn
sie gleichgiltige und schläfrige Dinge erzählt. Aber sie beruhigt zugleich, mußt Du wissen, weil
sie die Empfindung auslöst, daß Du Dich einer Mehrheit gegenüber befindest, die das Nämliche
will und — wie man im kritischen Jargon sagt ¬

„auf den nämlichen Ton gestimmt“ ist. Sie
beruhigt, indem sie erregt, und sie erregt, indem sie beruhigt. Sie zwingt so und so viele Hitz¬
köpfe und Schreihälse, die
sich selber überlassen

gern über die Stränge hauen und über
die Grenzen ihrer Persönlichkeit ins Uferlose, Ungeneste und Eitle springen würden, zu einer
demütigen Gebundenheit im Dienste der allgemeinen Sache.
Das Geheimnis des „Deutschen Cheaters“ liegt nun wohl darin, daß seine Regie die
Munder dieser „Massenwirkung“ auch dann zu erreichen weiß, wenn sie nur zwei, drei, vier,
fünf, sechs oder weniger Akteure ins Treffen schickt. Es fühlt sich jeder einzelne unter ihnen
gleichsam von einer unsichtbaren Masse gleichgestimmter Komparsen umgeben, nach denen er sich
schen umsieht, wenn er gesprochen hat, und die er ängstlich beobachtet, weil er sich von ihnen
beobachtet und beengt und in den Grenzen der ihm gerade noch konzedierten Persönlichkeit fest¬
gehalten glaubt. Es wagt keiner „loszulegen“ oder sonstwie aus seinem festumgrenzten Selbst
herauszukriechen, weil er sich von der Allgemeinpersönlick keit des darstellerischen Gesamtstils ein¬
gezwängt und umschlossen fühlt. So kommt es, daß auch schon zwei, drei, vier Schauspieler, die
auf der Bühne verhandeln, wie „Masse“ wirken und den Eindruck wecken, als wären ihre Einzel¬
persönlichkeiten von den dicken Konturen der Gesamtpersönlichkeit, der sie gehorchen müssen, um¬
flossen und bis zu einem gewünschten Grade an ihrer Ausdehnung gebindert. Man wird an¬
Plakatfiguren erinnert, die von centin eterbreiten Schmierlinien umrisen sind, oder Glasbild¬
figuren, denen die Bleifassung den Leib und wohl auch die Seele umschnürt.
Also: Massenwirkung en miniature, wie gesagt, die hier seltsamer Weise von Einzel¬
personen ausgeht, weil der ästhetische Stil ihrer Darstellungsweise sozusagen von einer imagi¬
nären Masse, deren Glieder sie zu sein glauben, diktiert wird. Immerhin ein dramaturgisches
Stil=Rätsel will mir scheinen, das einmal in der noch nicht geschriebenen „Pfpchologie der modernen
Bühnenkunst" Beachtung verlangen und finden wird.