II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 350

16.1. Lebendige Stunden— Zuklus
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Bühne und Welt.
Das „Deutsche Theater“ hat neben älteren Drodukten, die uns Wienern schon in den
Dorjahren vorgesetzt worden. Schnitzlers vier Einakter und die „Hoffnung“ des Holländers.
Hepermanns gebracht, zwei Darbietungen also, die unserem Publikum zwei höchst interessante
Nova waren. Znvörderst fand Schnitzler nun auch in Wien Gelegenheit, den ostentativen Bei¬
fall, der ihm für seine „Lebendigen Stunden“ zuteil geworden, persönlich zu quittieren. Daß
dies vin Berlin geschehen mußte, ist beschämend. Aber nicht für den Dichter, der umso lauter
geehrt wurde. Wir haben guten österreichischen Weißwein, der alljährlich in Mengen nach
Frankreich wandert, um dort zu Champagner verarbeitet und dann nach Oesterreich importiert
zu werden. Wir genießen diesen Champagner mit haut-gont und lassen es uns nicht einfallen,
daß wir mit unseren guten österreichischen Dichtern in gleicher Weise verfahren. Wir lassen
unsere guten österreichischen Poeten im Auslande zu Schaumfabrikaten verarbeiten, weil wir
nicht Mut und nicht Urteilskraft geung haben, um hierzulande vor ihrer Transformation an
ihnen Gefallen zu finden. Aber wir ziehen den Hut ab und reißen das Ukaul auf, wenn
sie umgemodelt und umgebrodelt heimkehren und in fremdländischen Gebinden serviert werden.
Wir lassen uns von Berlinern den Wiener Schnitzler vorsetzen, lassen uns von Berlinern seine
Wiener vorwienern. Das wäre aufregend, weil es ganz ungebührlich grotesk ist —
wenn wir
nicht wüßten, daß Aehnliches hier seit Jahren. Jahrzehnten, Jahrhunderten im Schwange und
Gange ist. Um bei Schnitzler zu bleiben, sei nur konstatiert, daß uns der „Schleier der Beatrice“
bis heute vorenthalten wurde, daß man eine würdige Darstellung seines Freiwild“ hier noch
immer nicht riskiert hat, doß der „Grüne Nakadn“ noch immer aus staatserhaltsamen Be¬
denken von den Hoflakaien des Burgtheaters am Sprechen gehindert wird, daß auf dem treff¬
lichen „Lientenant Gustl“ hier noch immer das Stigma „Olet!“ lastet und daß man das künst¬
lerisch wertvolle „Vermächtnis“ seit Jahr und Tag nicht mehr im Repertoir der Hofbühne findet.
Ist man so reich an ernsten und vornehmen Calenten in Oesterreich, daß man
sich hier in unerhörter Dreistigkeit und Indolenz ganz ungestraft gestatten darf.
so ruppig mit ihnen umzuspringen?! Ruppig ist ein preußisches Wort, aber ein wiene¬
rischer Begriff. Aan nehme es sich nicht heraus, diese Indolenz auf die Spitze zu treiben.
Man ziehe aus dem weibisch beklagten „Jall Baumberg“ mannhafte Konsequenzen! Man
lerne und bessere sich, weil man dazn da ist, und gestehe sich ein, daß es albern und roh ist,
die vormärzliche Machthaberei in unseren Tagen auf die Spitze zu treiben. Respekt vor ernsten
heimischen Kräften, wenn's beliebt! Und beliebt es nicht, dann wird es belieben müssen!
Denn es kommt ein Cag, der die Demtile öffnet. Oder sollten hierzulande wirklich nur die sub¬
alternen und die hochstaplerischen Calente Thancen haben? Dann wäre es an der Zeit, ins
Ungewisse auszuwandern. Aber nicht in jenes Ungewisse, das Antonia Baumberg vor ihrem
usse gewählt hat. Dielmehr in andere Länder, wo man in den Dichtern auch Menschen
sieht — sozusagen! Dann wäre es an der Zeit, in den Dienst einer anderen Beimat zu treten
und ihren Ruhm zu singen. Ubi amantur poetae, ibi artis patria. Nur in diesem Sinne
läßt sich eine „Heimatskunst“ denken.
Anton Lindner.

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