II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 354

16. 1. Lebendige Stunden - zyklus
das sich im Zeitungsdeutsch einzubürgern droht, zu
enträthseln. Ehrlose hat bisher den Gegensatz von
behrenhafte bedeutet, und die eine wie die andere
Eigenschaft konnte nur von Wesen, denen Ehre zu¬
kommt, ausgesagt werden. Kein unvernünftig Ding
erfuhr solche Werthung, und niemand hat je den
schlechten Kôter, der nach jedem von fremder Hand
gereichten Brocken schnappt, als ehrlos bezeichnet.
Nun hat der Oberste Gerichtshof erklärt, auch der
Presskôtere, der gleichfalls unvernünftig ist und alle
irgend erreichbaren Brocken wegschnappt, sei in¬
different in Bezug auf die Ehre, ein Ding ohne Ehre.
Und da kommen die Taglöhner der Presse, und statt
sich zu freuen, dass die Zeitung glücklich los von
der Ehre ist, jjammern sie, die Zeitung sei ehrlos ge¬
macht worden. Als pressfeindlich wird von den
Trägern und Nutzniesserh: der Presscorruption ein
Urtheil gescholten, das doch höchstens ein intran¬
sigenter Gegner des capitalistischen Zeitungswesens
beklagen dürfte, weil es einer verworfenen Presse
das unwürdige Dasein erleichtert. Denn was müsste
geschehen, wenn einmal unwiderruflich festgestellt
würde, dass die Zeitung Ehre besitzt, dass Blätter,
die kaum durch die Lücken der geltenden Gesetze
entschlüpfen können und sicherlich vor einer zu¬
künftigen, von socialem Geist erfüllten Gesetzgebung
nicht bestehen werden, nicht nur den staatlichen
Richtern, sondern auch vor dem strengeren Forum,
das über Ehre urtheilt, verantwortlich sind? Kein
Zweifel, gerade die Zeitungen, deren Herausgeber
sich gegen das Urtheil des Obersten Gerichtshofs
auflehnen, wären, wenn wirklich von Zeitungsehre
die Rede sein sollte, ehrlos, und weil von der Ehre
eines Verbandes jene seiner Mitglieder abhängt,
müssten ehrenhafte Leute wie die Herren Gold¬
baum, Poetzl und David ihren Journalen den Dienst
künden und ihre gute Sache von Jobberei, Kuppelei
und Scandalsucht reinlich scheiden. Aber die milde
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Klugheit unseres Obersten Gerichtshofs ist weit ent¬
fernt von der unerbittlichen Weisheit jenes höchsten
Gerichts, das alles sittliche Thun richtet; sie rechnet
mit der Schwachheit vom Leben bedrängter Menschen,
und sie will redlichen Männern den Halt juristischer
Argumente bieten, durch die sie sich vor ihrem Ge¬
wissen dafür zu rechtfertigen vermögen, dass sie sich
halb unbewusst, halb schon wissend, den unsaubersten
Zwecken dienstbar machen lassen und das Ansehen
wie den Gewinn der Corruption fördern. Durch die
Thüre, durch die die Ehre — die in Wahrheit Ehr¬
losigkeit bedeutete — aus der „Neuen Freien Presse“
ausgetrieben ward, werden künftig vielleicht häufiger
als bisher — das ist die ernste Gefahr, die das Ur¬
theil des Obersten Gerichtshofs birgt — Gelehrte sich
einschleichen, den Weg aus der stillen Studierstube in
die Oeffentlichkeit finden; der Oberste Gerichtshof
hat ihnen die Beruhigung zugesichert, dass die
schmutzige Hantierung mit Druckerschwärze nicht
auf sie abfärbt und dass sie keine Minderung ihres
Ansehens zu fürchten haben, weil es keine Ehre des
Blattes gibt, die auf die Ehre der Mitarbeiter zurück¬
wirkt. Und sollte man den Obersten Gerichtshof
nicht wenigstens für die Offenherzigkeit loben, mit
der er einen Grundsatz proclamiert, nach dem sein
Vicepräsident Emil Steinbach handelt, wenn er in
der Zeitung der Manchestermänner John Ruskins
Lehre verkündet?
Die Heftigkeit, mit der die Herausgeber der frei¬
sinnigen Blätter das Urtheil des Obersten Gerichts¬
hofs bekämpfen, ist nur zu begreiflich. Es liegt im
Interesse dieser Männer, den Glauben aufrecht zu
halten, als ob Feilheit der Meinung, als ob die
Förderung des schädlichsten Speculantenthums nicht
das Mass ihrer eigenen, persönlichen Ehre bestimmen
würden. Die Zeitung, das unpersönliche Wesen, soll
Ehre haben. Und ebenso wie beim Gewinn, den der
capitalistische Zeitungsbetrieb bringt, soll auch bei