II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 355

16.1. Lebendige Stunden—zuklus
dem Verlust an Ehre, der aus ihm erwächst, eine
leoninische Theilung zwischen dem Arbeitgeber und
den jjournalistischen Arbeitnehmern stattfinden. Je
reichlicher bemessen der Antheil ist, den sich der
Herausgeber vom Geldertrag des Zeitungsgeschäftes
vorbehält und je karger den Schreibsclaven der
Corruption der Lohn zugemessen wird, ein desto ge¬
häufteres Mass der Missachtung, die das corrupte
Treiben erntet, soll durch die Schaffung einer
Zeitungsehre, von der für jeden Redacteur sein Theil
abtiele, vom Chef auf die Untergebenen überwälzt
werden. Nichts ist natürlicher, als dass aus der
lärmend angekündigten Kundgebung der Wiener
Journalistik gegen den Obersten Gerichtshof schliess¬
lich ein Protest der Unternehmer unserer Concordia¬
Blätter wurde. Er vollzog sich, wie man erzählt, in
vollzähliger Abwesenheit aller jener der Concordia
angehörenden Journalisten, die zum Protest gegen
einen Versuch, die persönliche Ehre der im Zeitungs¬
dienste Frohnenden anzutasten, berufen wären. Umso
zahlreicher aber waren diejenigen versammelt, denen,
wenn sie dem geheimsten Herzenswunsch Ausdruck
zu leihen wagten, angesichts des Urtheils des Obersten
Gerichtshofs nur eins erübrigen würde: der Wunsch,
dass durch richterlichen Spruch, wie diesmal die
Zeitung, ein nächstesmal der Zeitungsschreiber als
indifferent in Bezug auf die Ehre erklärt werden
möge. Zu solcher Anschauung scheinen sie sich
ja schon längst geeinigt zu haben, und dass dem
in der Concordia bestehenden Ehrengericht keine
andere Aufgabe zukommt, als ihr zum Durchbruch
zu verhelfen, wird leicht erkennen, wer da weiss,
dass jenes Ehrengericht niemals selbst in den
Hagrantesten Fällen der Verletzung der Schriftsteller¬
ehre eingeschritten ist. Wie viel bequemer wäre das
Leben freisinniger Journalisten, wenn niemand mehr
ihnen vorwerfen dürfte, dass sie die schwersten ehren¬
rührigen Auschuldigungen ruhig hinnehmen, niemand
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mehr, weil der Zeitungsredacteur ein Wesen ohne
Ehre wäre, von ehrlosen Redacteuren reden könnte,
und wenn man, so wie vor anderthalb Jahrbunderten
das Wort -Canailles als Bezeichnung des sgemeinene
Volks jeden üblen Sinn verloren hatte, ohne Em¬
pörung und Missachtung von der -Journailles reden
würde.*)
*) Der Gedankengang, der durch die voranstehende Betrachtung
führt, wird in dankenswerther Weise von einem Wort erhellt, das neu¬
lich, anlässlich des Gastspiels des Deutschen Thrater-Ensembles, auf der
sonst schlechteren Erkenntnissen geweihten Bühne des Carltheaters ge¬
sprochen wurde. In einer der vier -Lebendigen Stundene Arthur
Schnitzler’s ruft der sterbende Journalist Rademacher: „...
Wissen
Sie, woran ich zu Grund geh'? Sie meinen an den lateinischen Vocabeln,
die da auf der Tafel steh'n — Oh nein! An Gall’, dass ich vor Leuten
hab' Buckerln machen müssen, die ich verachtet hab’, um eine Stellung
zu kriegen. Am Ekel, dass ich Dinge hab’ schreiben müssen, an die ich
nicht geglaubt hab’, um nicht zu verhungern. Am Zorn, dass ich für
die infamsten Leutausbeuter hab’ Zeilen schinden müssen, die ihr Geld
erschwindelt und ergaunert haben, und dass ich ihnen noch dabei ge¬
holfen hab’ mit meinem Talent. Ich kann mich zwar nicht beklagen:
von der Verachtung und dem Hass gegen das Gesindel
hab’ ich immer meinen Theil abbekommen, — nur leider
von was Anderm nicht.: Diese eine Stelle verleiht der letzten
dramatischen Arbeit des Wiener Schriftstellers eine Bedeutung, die ihr
vermöge ihres künstlerischen Gehaltes nie zukäme. Das eigentlich
Tragische einer Gestalt ist hier in einem Satze, der der Gesinnung
seines Autors alle Ehre macht, erschöpft; er entschädigt für alle erschwitzte
Psychologie, die an die Begegnung des Sterbenden mit seinem Jugend¬
freunde und an die anderen Variationen eines recht problematischen
PProblemse gewendet erscheint. Kein Wiener Beurtheiler und Ueberschätzer
der -Lebendigen Stundene hat aus der Fülle scenisch verkleideter
Feuilletonbeobachtungen dies eine Wort hervorgehoben. Begreiflicher
Weise. Aber Arthur Schnitzler möge aus der lebendigen Stunde, die
es ihm eingab, innern Vortheil ziehen, und wenn er wirklich der
grösste Dramatiker Oesterreichs ist, sie meinetwegen skünstlerisch aus¬
nützen“. Mit einem Satz hat er sich über einen wahrhaft dramatischen
Conflict hinweggesetzt, und hat, da ihn das -Verhältnis des Künstlers
zum Lebene beschäftigte, nicht Leben gestaltet, sondern eine artistische
Anm. d. Herausgebers.