II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 371

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16.1. Lebendige Stunden zuklus
Turaser-, -Die Hoffnunge; Dienstbotenstück: -Paulinee; Militär¬
drama: der grelle, verlogene -Rosenmontage und feiner,
daher weniger erfolgreich: -Freiwild-; Judenstücke: Die Müttere,
Agnes Jordane, Lehrerstück: Der Probecandidat-; Clerikerstück:
=Jugende; Verbrecherstücke: Der Biberpelze und =Der rothe
Hahns. Genug der Beispiele, die nur verdeutlichen sollen, wie
ausgiebig das neue Feld beackert wurde. Aber die Zahl der
Möglichkeiten ist begrenzt; es gibt so und so viele Stände, für
deren Milieu ein Publicum interessiert werden kann. Wieder¬
holungen sind nur mehr von wenig Interesse, und so muss
schiiesslich das Ende kommen.
Otto Brahm schiebt es nach Möglichkeit hinaus. Als klugen
Faiseur und ausgezeichneten Regisseur kann man ihn nicht genug
bewundern. Er haf sich in seiner Schauspielerschar ein tadelloses,
seinem leisesten Winke gehorchendes Instrument geschaffen.
Laubes Wunsch, das Streben nach einem Ensemble, nach einem
harmonischen Ganzens, hat er vollständig erfüllt. Kein
Grosser ist in seiner Gesellschaft, und er könnte ihn gar nicht
brauchen; er würde seine Kreise nur stören. Denn seine braven
Gesellen müssen einschwenken wie die Unterofficiere. Sie haben
zu illustrieren. Es gab vielleicht nie und gibt gegenwärtig gewiss
nirgends in Deutschland gleich abgetönte, runde Vorstellungen.
In Wien, wo Zerfahrenheit, komödiantische Aufdringlichkeit den
höchsten Grad erreicht haben, weil fähige Directoren, verständige
Kritiker und ein erzogenes Publicum fehlen, wirken die Berliner
als gute Lehrer. Da ist weise Beschränkung des Zieles und rück¬
haltloser Eifer, es zu erreichen. Brahm hat sich mit unermüdlicher
Beharrlichkeit seine Dichter und Schauspieler wie seine Zuschauer
erzogen. Er ist zweifellos die einzige wirklich bedeutende Persön¬
lichkeit, die der Sturm im Glase Wasser, genannt deutscher
Realismus, auf die Oberfläche gebracht hat.
Ob nicht trotz seiner Tüchtigkeit der Abschwung das
Riesenwerk von Fleiss und Intelligenz zerstören wird? Ein
Dramatiker könnte allein ihm heifen; und zwar ein Dramatiker
des Milieus. Er fand sich nicht, weil das Milieudrama seiner
Natur nach nicht theatergemäss ist, so wenig wie die Natur.
Denn Gliederung der Thatsachen, Steigerung der Handlung,
Parteinahme des Dichters sind erforderlich, um ein Publicum
fortzureissen: Stilisierung der Natur. War es Unfähigkeit oder
Ehrlichkeit, dass die deutschen Veristen das übersahen? Ihre
Siege — die letzten waren nur in der gewissen Trägheit der
Menge, die eine Zeitlang noch gegen den eigenen Willen die
von ihr aufgestellten Götzen ehrt, begründet — verdankten sie
dem socialen Instincte; aber ohne Beobachtung der Gesetze kann
man nur in revolutionären Zeiten regieren, oline Beobachtung der
Theatergesetze also nur in theaterrevolutionären Zeiten; und
diese Epochen dauern nie lange. Deshalb blüht den ehrlichen
Begabungen des „Verismos die nicht über beobachtete Milieu¬
kunst hinausstreben, kein Erfolg mehr. Herr Sudermann, der
sicherste Theatraliker, hatte stets für die Aussichtslosigkeit der
Revolte feine Witterung, er nahm einigen äusserlichen Aufputz
der Mode an und blicb im übrigen bei seiner grosszügigen
Geschmacklosigkeit, seiner derb zugreifenden Art, der kein Gegen¬
satz zu gekünstelt, kein Schlager zu verlogen, keine Symbolik
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