II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 387

box 21/3
16. 1. Lebendige Stunden zuklus
Telephon 12801.
Alex. Weigl’s Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
Ausschnitt
Nr. 36
„OBSERYER“
österr. behördl. conc. Bureau für Zeitungsberichte u. Personalnachrichten
Wien, IX/1, Türkenstrasse 12.
— Filiale in Bodapest: „Figyeló“ -
rtretungen in Berlin, Chicago, Genf, London, Newyork, Paris, Rom, Stockholm.
SVonrann. Ma
s#. 7/2 /902-
Lobetheater. Sonnabend, 8. Februar. „Lebendige
[Sünden.“ Vier Einacter von Arthur Schnitzler. Schnitzler
hat sich, nachdem ihm der große Wurf mit dem „Schleier der Beatrice",
wenigstei der Bühnenwelt gegenüber, nicht gelungen ist, wieder der
Kleikkunst zugewendet, indem er einen Cyklus von vier Einactern schrieb.
Daß er im Kleinen groß zu sein vermag, wissen wir seit seinen Erst¬
lingen, den dramatischen Stizzen des „Anatol“. Später brachte der
„Grüne Kakadu“ eine weitere Steigerung und in den „Lebendigen
Stunden“, haben wir jetzt wohl das Reifste, was das seine Talent
Schnitzlers überhaupt zu geben vermag. Der den Cyklus einende Titel
ist dem ersten Stücke entlehnt. Er klingt vortrefflich und ist klug er¬
sonnen, zu tlug vielleicht für ein Theaterwerk, das Tausenden gehört,
100
die nicht grübeln, sondern sehen wollen. In dem eröffnenden Einacter
200
ist die Idee des Dichters leicht zu greifen. Ein Realist sagt dort zum
00
Künstler: „Was ist denn Deine ganze Schreiberei, und wenn Du das
größte Genie bist, gegen so eine lebendige Stunde, in der Deine Mutter
hier auf dem Lehnstuhl gesessen ist und zu uns geredet hat.“ Und der
[Künstler antwortet: „Lebendige Stunden? Sie leben doch nicht länger,
lals der Letzte der sich ihrer erinnert. Es ist nicht der schlechteste Beruf,
solchen Stunden Dauer zu verleihen, über ihre Zeit hinaus". Mit
anderen Worten hat Heine ähnliches gesagt: „Aus meinen großen
Schmerzen mach ich die kleinen Lieder“.
Der Künstler bleibt auch dem
Leid, fremdem und eigenem, gegenüber Künstler. Aus Tod und Schmerzen
gewinnt er die Kraft zu lebendigen Werken. Er kämpft mit dem Leben
sund, wenn er es besiegt, so ist er ein Schöpfer. Schwerer schon ist;
saus der zweiten Tragödie „Die Frau mit dem Dolche“ dieses melan¬
scholische Leitmotiv herauszuhören. Der große Maler des Cinquecento
hält erst die furchtbar schöne Geste seiner mordenden Frau im Bilde
fest, bevor er ihre Untreue straft. Und im dritten Stuck erscheint die
These eigemlich umgekehrt. Denn der sieche Journalist verzichtet auf
eine „lebendige Stunde“ der Rache, weil er erkennt, daß er im Tode den
Frieden finden wird. Der vierte Act endlich hat garnichts mehr mit
der „Idee“ zu thun, denn er schlägt aus den Contrasten von Kunst und
[Leben nur parodistische Münze.
So halte ich denn auch nicht die den vier Gliedern des Cyclus eine
künstliche, ja gekünstelte Verbindung gebende These für das eigentliche
Werthvolle der neuesten Dichtung Schnitzlers. Vielmehr sind es die
dichterischen und theatralischen Reize jedes einzelnen Theiles für sich,
die vornehmlich in Betracht kommen. Bald überwiegen die ersteren,
lbald die letzteren. Reizlos wird eben die Phantasie dieses geistvollen
Dichters nie. Aber da er viermal zu grundverschiedenem Schaffen an¬
setzt, so war die organische Vereinigung der Stücke über das prattische
Bedürfniß des Theaterabends hinaus vielleicht ein künstlerischer Fehler.
Der erste Einacter „Lebendige Stunden“ fesselt durch sanfte Stim¬
mungsreize. Eine dramatische Wirkung jedoch löst der Conflict zwischen
dem älteren Manne, der die todte Freundin betrauert, und dem Sohne
der Verstorbenen, der von den Schrecken des Todes hinweg egoistisch
zum Leben strebt, nicht aus.
Complicirter und eindrucksvoller ist Nummer zwei: „Die Frau mir
dem Dolche". In der Gemäldegalerie geben sich Pauline, die Frau
leines Dichters, und Leonhard, ihr Anbeter, ein Stelldichein. Sie stehen
vor dem Bilde eines unbekannten Meisters, der „Frau mit dem Dolche“
die stier auf die Leiche eines von ihr gemordeten Jünglings blickt. Frau
Pauline, die unberechenbar capriciöse Dame, schaut der dolchbewehrten
Mörderin des Bildes auffallend ähnlich. Und als die Lebende die ge¬
malte Doppelgängerin näher betrachter, findet sie auch, daß der am
Boden liegende, vom Dolche durchbohrte Jüngling ihrem Leonhard gleicht.
Dem Paare dämmert eine traumhafte Ahnung empor, als hätten sie
schon einmal gelebt, sich schon einmal geliebt; die Schatten vergangener
Zeiten steigen herauf und in einer Vision tritt die im Bilde dargestellte
Sensationsgeschichte aus der Renaissancezeit sichtbarlich an die Stelle
der Gegenwart. Pauline wandelt sich zur Paola, Leonhard zum
Lionardo. Sie erleben ihr modernes Schicksal in der Variation jener
blutigen Zeiten. Die Vision nimmt ein Ende. Pauline und Leonhard
sind wieder in der Gemäldegalerie. Aber unter dem betäubenden Einfluß
des erotischen Traumes tritt jetzt bei Pauline entschlossene Gewährung
an die Stelle unentschlossenen Versagens. Mit der tnappen Abrede des
entscheidenden Rendezvons schließt das Bild, das seine eigenen, phan¬