II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 389

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16.1. Lebendige Stunden zuklus
herab ihre beim Lesen nicht gleich stark empfundene Anziehungskraft
ausübt, nicht gerecht, wenn man sich blos an den äußeren Vor¬
gang in jedem der vier gesonderten Stücke hält. Allerdings erfüllt
jedes Stück, mit Ausnahme des ersten, auch die unerläßliche For¬
derung, selbständig für sich und durch seine Handlung zu fesseln,
aber zur vollen Geltung kommen sie nur im Zusammenhange.
Wie die Facetten eines geschliffenen Edelsteins sich gegenseitig
ihren Glanz zuspiegeln, so hebt sich erst aus dem Erfassen
der vier Stücke die geistvolle Behandlung der dichterischen
These hervor, die Schnitzler behandeln wollte. Ein Thesenstück
liegt ja zweifellos vor, aber licht eine in poetische Formen
kümmerlich eingekleidete Erörterung, wie sie in modernen socialen
Dramen uns so oft langweilt, sondern der Dichter hat ein ihn
beschäftigendes Problem in poesie= und lebensvolle Handlung um¬
gesetzt. Wie es in jedem echten Kunstwerke sein soll, spricht dieses
unmittelbar und mit zwingender Gewalt zu dem Beschauer und
Hörer.
In einem seiner leider noch immer so wenig bekannten großen
lyrischen Gedichte läßt Grillparzer die Frau Welt den Bann aus¬
sprechen gegen den ihr widerstrebenden Dichter:
„Sieh, was das Leben Dir entzogen,
Lobetheater.
Ob Dir's ersetzen kann die Kunst!“
Und der Größte unter den Neueren, Henrik Ibsen, hat in seinem
„Lebendige Stunden.“
letzten Werte „Wenn wir Todten erwachen“ den Künstler vor¬
Arthur Schnitzler hat stets die Form des dramatischen
geführt, der verzweifelnd zu spät erkennt, daß er sich und die
Einacters bevorzugt. Zugleich liebte er es aber, eine Reihe von
Geliebte um das wahre Glück betrogen, seinen Seelenfrieden ver¬
Einactern unter bestimmten Gesichtspunkten zusammenzufassen.
loren habe, als er dem künstlerischen Schaffen zuliebe auf den
So hat er in den sieben Liebesscenen des „Anatol“ (1894)!) und
Genuß des warmen, pochenden Lebens verzichtete, in dem liebenden
noch in einer zweiten Reihe dramatischer Dialoge als scharfer Be¬
Weibe nur das Modell für sein erträumtes Kunstwerk sah. Nicht
obachter und mit bald scherzend heiterer, bald hogarthisch=satirischer
eine entscheidende Antwort, wie Ibsen, nicht einen leidensvollen
Zeichnung Augenblicksbilder unbeständiger sinnlicher Neigung vor¬
Aufschrei des vom wilden Dämon Phantasie rastlos durchs Leben
geführt,
gepeitschten Dichters, wie Grillparzer, giebt uns Schnitzler. Er
„Die Komödie unsrer Seele,
Uns'res Fühlens Heut und Gestern,
will in dem einleitenden Stücke, gleichsam dem Prologe zum
Böser Dinge hübsche Formel,
Ganzen, nur das Problem stellen, um es dann in den entgegen¬
Glatte Worte, bunte Bilder,
gesetzten Einzelfällen des Lebens, zweimal mit tiefer Tragik, zum
Halbes, heimliches Empfinden,
Schluß in ergötzlichster Satire, als schwer oder gar nicht lösbares
Agonieen, Episoden..“
Räthsel der Menschenbrust uns vorzuführen.
Allein schon einige Jahre später, 1899, verband er die drei
Die Mutter des Dichters Heinrich (Herr Schlaghammer)
Einacter „Paracelsus“, „Die Gefährtin“ und „Der grüne Kakadu“
hat ihrem jahrelangen, unheilbaren, aber nach Ausspruch des
durch eine bestimmte Idee, die er dem einleitenden „Paracelsus“
Arztes noch lange währenden Siechthume ein gewaltsames, vorzeitiges
auch als Motto voransetzte: „Wir spielen immer, wer es weiß, ist
Ende gemacht, um dem an ihrem Schmerzenslager verkümmernden
klug“.
Schein und Sein gehen im menschlichen Leben so inein¬
Sohne die Freiheit und Schaffenskraft wieder zurückzugeben. Die
ander über, daß selbst der Meister, der sich vermißt, durch seine
That höchster, aufopfernder Mutterliebe wird aber von ihrem alten
geheime Kunst die Wahrheit zu enthüllen, zuletzt ebenso irre wird,
Herzensfreunde Anton Hausdorfer (Herr Ziegel) dem ahnungs¬
wie die Zuschauer des Komödianten Henri am Tage des Bastillen¬
losen Sohne als Schuld angerechnet, denn mehr als alle Dichtungen
sturmes die gespielte Rolle und den wirklichen Vorgang nicht mehr
wären die paar lebendigen Stunden werth gewesen, welche die
zu unterscheiden vermögen. Enger und geistvoller erscheint die Ver¬
Freundin und Mutter noch in seinem Garten Tag für Tag zu
bindung der einzelnen Stücke indessen noch in Schnitzler's neuestem
ihrem und seinem Troste verplandert hätte. Der alte Hausdorfer,
Einactercyclus, den vier Scenen der „Lebendigen Stunden“?).
der in seiner langen Dienstzeit im Bureau gesehen, wie leicht jeder
Man wird der reizvollen Dichtung, die freilich erst von der Bühne
Arbeiter zu ersetzen ist, glaubt nicht an die Bedeutung der Arbeit
eines Einzelnen. Ihm war es arauenvoll, daß einer seiner Amts¬
1) Arthur Schnitzler, „Anar##iustrirt von W. Coschell. Erste bis
11
dritte Auflage. Berlin, S. Fischers Verlag,
1901.
genossen am Sarge seines Kindes füt ein armes Buberl eine
Arthur Schnitzler „Lebendige Stunden“.
—Ieier Einacter. Zweite
Melodie setzte, wie ihm grauenvoll ist, daß Heinrich, als er
Auflage. Berlin, S. Fischers Verlag, 1902. (160 S. 8°. 2 Mr.)
von dem Opfert¬
#e seiner Mutter erfährt, daraus die Verpflichtung