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16.1. Lebendige Stunden—Zuklus
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Münchner Rundschau.
und zumal die hohlen „letzten Masken“ endlich hinweggenommen, die uns den Dichter so
gern verbergen wollten als das, was er in Wahrheit nun doch einmal ist und bleibt: nämlich
als ein Wiener Café=Haus=Litterat und Litteraturgigerl, das auch als Arzt (seines Zeichens)
von der ganzen, großen Welt nichts Anderes als nur immer wieder das Künstler= und Feder¬
helden=Milieu zu sehen und zu kennen scheint. Das relativ Tiefste und Beste daran war wohl
noch die Szene im Wiener Allgemeinen Krankenhaus mit ihren unheimlichen Schlag¬
schatten. Im Übrigen deucht mir nicht: die Stellung des Künstlers zum Leben, dessen
Beobachtung und Verwertung seitens des Artisten, bis zur herzlosen Aufzehrung, das einzig
Gemeinsame all dieser vier Einakter zu sein; vielmehr bildet ein tertium comparationis
nebenher auch noch das Thema: „Rivalen!“ — Herrn von Possart aber erinnern wir nach
Vorführung dieser niedlichen kleinen Schauspiele mit ihrem windigen Inhalte von höchst
lockeren Sitten nachdrücklichst wieder einmal an die „jugendlichen Prinzessinnen des
Kgl. Hauses, deren gelegentlichen Theaterbesuchen ein Münchner Intendant der Kgl. Hof¬
#theater unbedingt Rechnung zu tragen habe“. ...
Herr von Possart, er hut inzwischen sein Abiturienten=Examen als waschechter
„Wagnerianer“ glänzend vor aller Veit abgelegt, will sagen: die vier Abende seines
rhetorischen „Nibelungen=Zyklus“ nun auch glücklich „absolviert“. Wir hatten Gelegenheit,
dieser sensationellen „Vorlesung mit verteilten Rollen“ beizuwohnen, bei der es gelegentlich
(z. B. bei Alberichs Fluche) sogar bis zur italienischen Oper, d. h. zum Losbrechen des
Applauses bei offenem — Munde kam, und hatten zudem das aparte Vergnügen, einem
kritischen Nachbar in sein Zensierbüchlein über die Achsel zu gucken. Was wir da „notiert“
fanden, entsprach so ungefähr auch unseren eigenen Eindrücken und persönlichen Empfin¬
dungen von der Sache: Oratorische Leistung und Kunststück der physischen Ausdauer —
Note 1“; plastisches Auseinanderhalten, individualisierende Charakteristik der redenden
Gestalten und handelnden Personen — 1 2; Kongruenz des deklamatorischen Ethos
und Pathos mit dem musikalischen Melos — 3; endlich innere Wahrheit der Diktion
und Echtheit des Vorgetragenen, des Kunstwerkes wie des Künstlerischen — 4/3. Alles
in Allem zum Mindesten ein vollkommen überflüssiges Unternehmen — genau wie beim
Münchner „Prinzregenten=Theater“: reichlich um 25 Jahre zu spät! Hätte Ernst von
Possart damals, vor jener Zeit, das Organ und die Erkenntnis für die Dichtung als
solche besessen, wir hätten es ihm als eindrucksvoll=wirksamen Vorstoß in die Welt der
„Litteraten“ vielleicht aufrichtig gedankt. Heute, da wir vor den verheerenden Wirkungen
des Fischer'schen Klavier=Wagner hier in München bereits stehen (denn auch heuer
blieb dieser Abend der Kritik wieder nicht geschenkt!) — da wir sein Publikum im
„Künstlerhaussaale“ gesehen und dessen kritiklose, rein physiologische Hingabe an den
Nervenreiz „Wagner“ wie an solche Brutalisierung der Partitur zum rohesten Elementar¬
Effekte beobachtet haben: heute begreifen wir höchstens, wie ein Nietzsche — zur Abfassung
seines „Fall Wagner“ gelangen konnte. Der thörichte „Wagnerianer“ als Musikfex und
dekadenter Leitmotiv=Duseler war hier im Grunde gemeint, nicht aber der „Meister“
selbst, so viel auch gegen diese Auffassung sonst sprechen mag.
Überhaupt, es war eine Woche zum Erbarmen und Herzerweichen — oder, sagen
wir männlicher: zum „Falsch=werden“ für den ehrlichen Kritiker; denn auch in der
„Musikalischen Akademie“ sollte er anläßlich der dortigen Vorführung von R. Strauß'
„Also sprach Zarathustra“ einen der ärgerlichsten, skandalösesten Eindrücke seines kritischen
Erinnerns noch erleben, der ihn flugs alles wieder hübsch abbitten ließ, was er noch
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16.1. Lebendige Stunden—Zuklus
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Münchner Rundschau.
und zumal die hohlen „letzten Masken“ endlich hinweggenommen, die uns den Dichter so
gern verbergen wollten als das, was er in Wahrheit nun doch einmal ist und bleibt: nämlich
als ein Wiener Café=Haus=Litterat und Litteraturgigerl, das auch als Arzt (seines Zeichens)
von der ganzen, großen Welt nichts Anderes als nur immer wieder das Künstler= und Feder¬
helden=Milieu zu sehen und zu kennen scheint. Das relativ Tiefste und Beste daran war wohl
noch die Szene im Wiener Allgemeinen Krankenhaus mit ihren unheimlichen Schlag¬
schatten. Im Übrigen deucht mir nicht: die Stellung des Künstlers zum Leben, dessen
Beobachtung und Verwertung seitens des Artisten, bis zur herzlosen Aufzehrung, das einzig
Gemeinsame all dieser vier Einakter zu sein; vielmehr bildet ein tertium comparationis
nebenher auch noch das Thema: „Rivalen!“ — Herrn von Possart aber erinnern wir nach
Vorführung dieser niedlichen kleinen Schauspiele mit ihrem windigen Inhalte von höchst
lockeren Sitten nachdrücklichst wieder einmal an die „jugendlichen Prinzessinnen des
Kgl. Hauses, deren gelegentlichen Theaterbesuchen ein Münchner Intendant der Kgl. Hof¬
#theater unbedingt Rechnung zu tragen habe“. ...
Herr von Possart, er hut inzwischen sein Abiturienten=Examen als waschechter
„Wagnerianer“ glänzend vor aller Veit abgelegt, will sagen: die vier Abende seines
rhetorischen „Nibelungen=Zyklus“ nun auch glücklich „absolviert“. Wir hatten Gelegenheit,
dieser sensationellen „Vorlesung mit verteilten Rollen“ beizuwohnen, bei der es gelegentlich
(z. B. bei Alberichs Fluche) sogar bis zur italienischen Oper, d. h. zum Losbrechen des
Applauses bei offenem — Munde kam, und hatten zudem das aparte Vergnügen, einem
kritischen Nachbar in sein Zensierbüchlein über die Achsel zu gucken. Was wir da „notiert“
fanden, entsprach so ungefähr auch unseren eigenen Eindrücken und persönlichen Empfin¬
dungen von der Sache: Oratorische Leistung und Kunststück der physischen Ausdauer —
Note 1“; plastisches Auseinanderhalten, individualisierende Charakteristik der redenden
Gestalten und handelnden Personen — 1 2; Kongruenz des deklamatorischen Ethos
und Pathos mit dem musikalischen Melos — 3; endlich innere Wahrheit der Diktion
und Echtheit des Vorgetragenen, des Kunstwerkes wie des Künstlerischen — 4/3. Alles
in Allem zum Mindesten ein vollkommen überflüssiges Unternehmen — genau wie beim
Münchner „Prinzregenten=Theater“: reichlich um 25 Jahre zu spät! Hätte Ernst von
Possart damals, vor jener Zeit, das Organ und die Erkenntnis für die Dichtung als
solche besessen, wir hätten es ihm als eindrucksvoll=wirksamen Vorstoß in die Welt der
„Litteraten“ vielleicht aufrichtig gedankt. Heute, da wir vor den verheerenden Wirkungen
des Fischer'schen Klavier=Wagner hier in München bereits stehen (denn auch heuer
blieb dieser Abend der Kritik wieder nicht geschenkt!) — da wir sein Publikum im
„Künstlerhaussaale“ gesehen und dessen kritiklose, rein physiologische Hingabe an den
Nervenreiz „Wagner“ wie an solche Brutalisierung der Partitur zum rohesten Elementar¬
Effekte beobachtet haben: heute begreifen wir höchstens, wie ein Nietzsche — zur Abfassung
seines „Fall Wagner“ gelangen konnte. Der thörichte „Wagnerianer“ als Musikfex und
dekadenter Leitmotiv=Duseler war hier im Grunde gemeint, nicht aber der „Meister“
selbst, so viel auch gegen diese Auffassung sonst sprechen mag.
Überhaupt, es war eine Woche zum Erbarmen und Herzerweichen — oder, sagen
wir männlicher: zum „Falsch=werden“ für den ehrlichen Kritiker; denn auch in der
„Musikalischen Akademie“ sollte er anläßlich der dortigen Vorführung von R. Strauß'
„Also sprach Zarathustra“ einen der ärgerlichsten, skandalösesten Eindrücke seines kritischen
Erinnerns noch erleben, der ihn flugs alles wieder hübsch abbitten ließ, was er noch
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